Als die ersten deutschen Kolonisten, dem Aufruf von Zarin Katharina folgend, 1764 nach Russland kamen, brachten sie eine unbeschreibliche Vielfalt an deutschen Dialekten mit ins Land. Es gab Dörfer an der Wolga, in denen über 100 verschiedene Dialekte gesprochen wurden. Da siedelten Hessen neben Rheinländern, Württemberger neben Pfälzern, Elsässer und Lothringer, Niederländer und Schweizer. Um die Überreste der Dialektvielfalt zu sammeln, ist der Sprachwissenschaftler Peter Rosenberg (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) mit seinen Mitarbeitern seit den 1990er Jahren in Russland unterwegs. Deutsche Dialekte in Russland sind auch eines der wichtigsten Themen auf dem Deutschlehrerforum, das vom 25. bis 29. Juni 2011 in Moskau stattfindet.
Als die ersten deutschen Kolonisten, dem Aufruf von Zarin Katharina folgend, 1764 nach Russland kamen, brachten sie eine unbeschreibliche Vielfalt an deutschen Dialekten mit ins Land. Es gab Dörfer an der Wolga, in denen über 100 verschiedene Dialekte gesprochen wurden. Da siedelten Hessen neben Rheinländern, Württemberger neben Pfälzern, Elsässer und Lothringer, Niederländer und Schweizer. Um die Überreste der Dialektvielfalt zu sammeln, ist der Sprachwissenschaftler Peter Rosenberg (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) mit seinen Mitarbeitern seit den 1990er Jahren in Russland unterwegs.
Deutsche Dialekte in Russland sind auch eines der wichtigsten Themen auf dem Deutschlehrerforum, das vom 25. bis 29. Juni 2011 in Moskau stattfindet.
Herr Rosenberg, seit 20 Jahren reisen Sie durch Russland, Kasachstan und Usbekistan, um die letzten Überreste deutscher Dialekte zu sammeln. Was genau haben Sie damit denn vor?
Mein Team und ich dokumentieren den Rückgang der deutschen Sprache und die Neumischung von Dialekten. Das machen wir übrigens nicht nur in Russland, sondern auch in Brasilien, wo es ebenfalls deutsche Sprachinseln gibt. Das Spannende ist doch, dass Sprachinseln — um im Bild zu bleiben — irgendwann einmal vom umliegenden Meer, das heißt von der Kontaktsprache, überspült werden. Wir fragen, wie das genau vor sich geht: Welche Sprachelemente verschwinden zuerst? Was hält sich? Eine interessante Entdeckung gibt es zum Beispiel bei der Unterscheidung von Dativ und Akkusativ. Bei den Substantiven findet ein galoppierender Abbau statt: Die Dialektsprecher werfen die Fälle wild durcheinander. Bei den Personalpronomen ist es erstaunlicherweise genau andersherum: Hier wird immer noch ganz korrekt zwischen „ihm“ und „ihn“ unterschieden.
Das heißt, ein bestimmter Kern an Grammatik bleibt erhalten?
Ja, genau. Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass man Fälle anscheinend vor allem dann braucht, wenn es um Personen, wenn es um Menschen geht. Die Sprache schrumpft auf den Kern des zur Unterscheidung Notwendigen zusammen. Das ist für Linguisten — gerade im Stadium des Rückgangs — sehr lehrreich, denn es zeigt uns, wie Sprache in unserem Kopf funktioniert.
Die deutschen Dialekte sind aber auch ein Kulturgut. Ihr schleichender Niedergang betrifft deshalb nicht allein die Grammatik.
Das stimmt, wobei ich, was die Kultur der Russlanddeutschen betrifft, weniger pessimistisch bin. Ich glaube, dass die ehemaligen deutschen Kolonien in Russland noch für lange Zeit Kulturinseln bleiben werden, nur eben keine Sprachinseln mehr. Kulturelle Werte — wie etwa traditionell russlanddeutsche Vorstellungen von Arbeit oder der Anlage der Dörfer — lassen sich zum Beispiel im Deutschen Rayon Halbstadt im Altaj noch beobachten, auch wenn dort, besonders unter den Jüngeren, zumeist Russisch gesprochen wird. Übrigens gibt es auch Bereiche, wo sich die Entwicklung noch verzögern wird. Erstens in so genannten Kerngebieten, also beispielsweise in Sibirien, wo allein die Entfernung für sprachliche Homogenität sorgt, und zweitens in Gruppen, die einen größeren Zusammenhalt haben, wie etwa die Mennoniten, die bis heute stärker nach ihren Traditionen leben.
Wird die russische Sprache denn nicht noch teilweise mit deutschen Dialekten vermischt?
Das Mischen der Sprachen ist vor allem für die Älteren typisch, die russische Partikel, wie „nu wot“ („na also“), „no konetschno“ („aber natürlich“) oder „wsjo“ („das wär`s“) ganz selbstverständlich mit verwenden. Bis vor 30 Jahren haben die Dialektsprecher viele Entlehnungen aus dem Russischen auch noch „eingedeutscht“. Diese „integrative Kraft“ ist heute jedoch verschwunden — gerade die Jüngeren gehen unmittelbar zum Russischen über.
Was ist mit der Kommunikation der Russlanddeutschen untereinander?
Man spricht meist Russisch — so paradox das klingt. Das liegt daran, dass das Deutsch, das gesprochen wird, stark dialektal gefärbt ist. Nehmen wir zum Beispiel das „Plattdeutsch“ der Mennoniten: Für andere ist das heute kaum mehr zu verstehen, da es sehr fremd klingt. Zum Beispiel „ich“, das sonst im Niederdeutschen „ick“ ausgesprochen wird, heißt im Mennoniten-Niederdeutsch „etj“; Kinder heißen „Tjinjer“ und Kirche „Tjoatje“. Im Deutschen Rayon Halbstadt haben wir eine Untersuchung mit Oberstufen-Schülern gemacht, darunter auch Mennoniten. Das Ergebnis war, dass sich die Mennoniten untereinander in Niederdeutsch unterhalten, mit ihren Schulkameraden — also den Sprechern anderer deutscher Dialekte — aber Russisch sprechen.
Könnten die älteren Russlanddeutschen, die teilweise noch mehrere Dialekte verstehen, nicht zum Vorbild werden?
Das ist schwierig, weil es für die russlanddeutschen Schüler heute einfach leichter ist, Russisch zu sprechen. Hochdeutsch ist ja erst neuerdings durch die Schule wieder etwas mehr verbreitet. Dazu kommt, dass viele Alteingesessenen, die Dialekte wie das „Katholische“ oder das „Mennoniten-Niederdeutsch“ noch verstehen, abwandern. Unter den Jüngeren beschleunigt das den Übergang zum Russischen, das kann auch die Zuwanderung von Deutschstämmigen, etwa aus Kasachstan, nicht verhindern.
Haben die Jüngeren überhaupt ein Interesse am Erhalt der deutschen Sprache beziehungsweise der Dialekte?
Russland war schon immer ein Vielvölkerstaat, deshalb glaube ich, dass auch die junge Generation die deutsche Herkunft noch als wichtig ansieht. Aber für die meisten ist es heute bequemer, Russisch zu sprechen. Es geht leichter, es liegt ihnen mehr auf der Zunge. Es gibt Kinder, die bis zum Eintritt in den Kindergarten oder in die Schule nur Deutsch sprechen, aber spätestens dann setzt der Übergang zum Russischen rapide ein. Für den Familienalltag reicht der Dialekt vielleicht noch aus. Aber man spricht ja nicht der Sprache wegen, sondern um mit seiner Umwelt zu kommunizieren, sich ein eigenes Leben aufzubauen, einen Beruf zu ergreifen. Für all das braucht man heute Russisch! Es gibt Jugendliche, die gründen Hochschulgruppen, in denen ganz bewusst nur Deutsch gesprochen wird. Aber insgesamt ist der russische Alltag einfach mächtiger. Die Zukunft der Russlanddeutschen liegt deshalb in meinen Augen bestenfalls in der Zweisprachigkeit und in der Verbindung der beiden Kulturen.
Das Interview führte Sophia Heyland
(Moskauer Deutsche Zeitung).