Eigentlich wollen alle, dass in Russland wieder mehr Deutsch gelernt wird: die Offiziellen beider Länder und natürlich auch die deutsche Volksgruppe. Doch was kann man dafür tun? Die MDZ hat sich in einem Modell-Kindergarten umgesehen und mit dem wohl ältesten Deutschkurs-Teilnehmer Russlands gesprochen (Moskauer Deutsche Zeitung vom 13. April 2015).
Eigentlich wollen alle, dass in Russland wieder mehr Deutsch gelernt wird: die Offiziellen beider Länder und natürlich auch die deutsche Volksgruppe. Doch was kann man dafür tun? Die MDZ hat sich in einem Modell-Kindergarten umgesehen und mit dem wohl ältesten Deutschkurs-Teilnehmer Russlands gesprochen (Moskauer Deutsche Zeitung vom 13. April 2015).
Draußen ist es Frühling geworden. Drinnen wissen Mädchen in bunten Kleidchen und Jungs in kurzen Hosen, was das heißt: Der Himmel ist blau, die Bäume werden grün, Mützen und Schals können zu Hause bleiben, bald ist auch wieder Zeit zum Radfahren. Fast alles an diesem Satz können die Vorschulkinder aus Syktywkar in der nordrussischen Komi-Republik schon sagen, und zwar genau so, wie es hier geschrieben steht: auf Deutsch. Zweimal pro Woche übt Deutschlehrerin Jewgenija Gorwat seit Beginn des neuen Schuljahres mit ihnen. Heute werden Jahreszeiten, Farben, Kleidungsstücke und Sportarten wiederholt.
Die Kleinen sitzen oder liegen auf einem großen Teppich in ihrem Kindergarten Nummer 107, wo der Deutschunterricht als Zusatzleistung zum regulären Programm gehört und für die Eltern kostenlos ist. Es wird nicht nur gesprochen, sondern auch gesungen, gemalt, gebastelt und gespielt.
Die Initiative für die Frühförderung ging von der National-Kulturellen Autonomie (NKA) der Russlanddeutschen in der Komi-Republik aus. Finanziert wird der Unterricht mit Fördergeldern. Ein Teil davon floss auch in einen neuen Kurs an der örtlichen Pädagogischen Fachschule, wo seitdem Deutschlehrer speziell für Vorschulgruppen ausgebildet werden. So etwas gab es bisher nicht.
Im Kindergarten 107 lernen 60 von 400 Kindern Deutsch – die ältesten Gruppen. Jewgenija Gorwat wundert sich immer wieder über ihre Auffassungsgabe: „Die wissen schon ziemlich viel, das ist gar kein Vergleich zu unserer Generation.“ Als Gorwat die Sechs- und Siebenjährigen einmal fragte, wo eigentlich überall Deutsch gesprochen wird, nannten einige Österreich und die Schweiz.
Der Kindergarten liegt im selben Stadtbezirk wie die 21. Schule mit erweitertem Deutschunterricht, die 1992 von den Russlanddeutschen als „deutsche Schule“ aus der Taufe gehoben wurde. „Die Kinder aus dem Kindergarten werden einmal auf ,unsere‘ Schule gehen, das macht ihn für uns so wichtig“, sagt Oleg Strahler, langjähriger Vorsitzender der NKA und heute Leiter eines Informations- und Bildungszentrums. Dem Vorschulunterricht zu Grunde liegt das Programm „Deutsch mit Hans Hase“ des Goethe-Instituts.
Deutsch wird in Syktywkar aber noch an drei weiteren Kindergärten gelehrt. Im Kindergarten 108 stammen 14 der derzeit unterrichteten Kinder aus russlanddeutschen Familien. Die Kosten trägt der Internationale Verband der deutschen Kultur in Moskau. In dieser Form engagiert er sich bereits für mehr als 120 russische Kindergärten, und das nicht nur finanziell, sondern auch durch sein eigenes Programm „Deutsch mit Schrumdi“, das gerade lizensiert wird. Bedingung: Der Anteil der deutschen Kinder in der Gruppe muss mindestens 70 Prozent betragen. Über die Sprache soll so die nationale Identität von klein auf gestärkt werden.
Offiziell gehören der deutschen Minderheit in Russland heute knapp 400.000 Menschen an. In der Komi-Republik sind es 5.400 – für den europäischen Teil des Landes ist das viel. Die meisten leben in Sibirien. So wie Heinrich Girstein, der mit 93 Jahren Deutschkurse am deutschen Kulturzentrum „KORN“ in Chabarowsk besucht, das vom Bundesinnenministerium unterstützt wird.
„Als Kind habe ich einen Dialekt gesprochen, der in Deutschland im 18. Jahrhundert vorkam“, erinnert sich Girstein. In seinem langen Leben, das wie bei fast allen Russlanddeutschen vom Krieg und den Repressionen unter Stalin mitgeprägt wurde, ist ihm die intuitive Nähe zur Sprache abhandengekommen. An manches erinnert er sich, das meiste muss er neu lernen. „Muss“ ist dabei natürlich relativ. Girstein lernt aus reinem Interesse an der Sprache, wie er sagt. Nach Deutschland auszureisen, habe er nie gewollt.
Die Standhaftigkeit des Rentners beeindruckt seine Mitschüler. „Er ist sehr fleißig“, sagt Jewgenija Knaus, die mit ihm an den Kursen teilnimmt und Leiterin des „KORN“-Jugendzentrums ist. „Wir anderen versuchen, so zu sein wie er. Heinrich ist der Talisman unserer Gruppe.“
So ansteckend Girsteins Enthusiasmus auch sein mag, die Sprache seiner Kindheit um ihrer selbst willen zu lernen – ein konkreter Nutzen entsteht ihm trotzdem, wie er schmunzelnd bekennt: „Ich gehe jede Woche in die Sauna, wo ich einen Mann treffe, der auf eigene Faust die Sprache lernt. Dann unterhalten wir uns auf Deutsch.“
Von Tino Künzel und Julia Larina
Quelle: Moskauer Deutsche Zeitung