Vergessene Kriegsopfer

Die Schreckensherrschaft der Diktatoren Adolf Hitler und Josef Stalin hat auch Karelien im russischen Norden nicht verschont. In dem friedlichen Waldland werden immer noch Gräber ihrer Opfer gefunden.

Margarete Friese (27) starb als erste, am 17. April 1945. Begraben liegt sie anonym auf einem Waldfriedhof im nordrussischen Karelien. Am Ende des Zweiten Weltkriegs mussten etwa 1000 deutsche Frauen sechs Monate lang im Lager Padosero als Zwangsarbeiterinnen schuften. Viele waren noch minderjährig.

„180 Frauen und Männer sind hier gestorben“, sagt Anatoli Antonowitsch (54). Der Unternehmer aus der nahen Republikshauptstadt Petrosawodsk kümmert sich als Freiwilliger um deutsche Kriegsgräber.

Still ist es auf der Lichtung im Kiefernwald, Schneeflocken fallen. Ein großes Kreuz und kleine Dreiergruppen von Kreuzen markieren den Friedhof, der 1997 eingerichtet wurde. „Hier ruhen Kriegsgefangene – Opfer des Zweiten Weltkriegs“, steht auf einer Tafel. Das Lager lag ein paar hundert Meter weiter an einem See, heute stehen dort Wochenendhäuser. „Achtung, streunende Bären!“, warnt ein Schild vor Betreten des Waldes.

Das Schicksal der zivilen deutschen Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter in der Sowjetunion ist eine wenig bekannte Episode des Krieges. Das faschistische Deutschland hat Millionen Männer und Frauen aus Osteuropa zur Zwangsarbeit gezwungen. Aber auch der sowjetische Diktator Josef Stalin ordnete an, dass Deutschland Wiedergutmachung durch Arbeit leisten müsse. Insgesamt wurden 1944/45 nach russischen Angaben 270 000 Deutsche dafür in die Sowjetunion verschleppt.

Die Frauen und Mädchen in Padosero stammten fast alle aus Ostpreußen. Die Rote Armee hatte sie auf dem Vormarsch wahllos aufgegriffen und in überfüllte Güterwaggons gesteckt. Viele überlebten schon die wochenlange Fahrt nicht. Die anderen kamen krank und halbverhungert im Lager 517/2 in Karelien an, wo noch dicker Schnee lag.

Karelien ist voll von Gräbern. Zwar kämpften hier keine deutschen Soldaten, aber Tausende starben später als Kriegsgefangene. In Karelien lag auch der Ursprung des sowjetischen Lagersystems. Zehntausende Menschen wurden im schlimmsten Stalin-Terror 1937/38 an Orten wie Sandarmoch oder Krasnyj Bor bei Petrosawodsk erschossen. Der Historiker Jurij Dmitrijew, Vorsitzender der Menschenrechtsgruppe Memorial in Karelien, hat diese Orte aufgespürt. Sie sind heute Gedenkstätten.

Doch im Russland unter Präsident Wladimir Putin wird versucht, die Geschichte dieser Orte umzuschreiben und Stalin zu entlasten. Finnische Soldaten hätten dort Rotarmisten erschossen, heißt es auf einmal über Sandarmoch. Dmitrijew und sein Kollege Sergej Koltyrin werden in einem Prozess in Petrosawodsk wegen angeblichen Kindesmissbrauchs verunglimpft.

Über die Geschichte des Frauenlagers Padosero hat Jurij Tschuchin geschrieben, der Gründer von Memorial in Karelien, der als ehemaliger Polizeioffizier an Akten und Namenslisten kam. Stacheldraht umgab 1945 das Lager mit zehn Baracken, es war kaum bewacht. Ein russischer Jugendlicher mit Flinte passte bei der Waldarbeit auf die Frauen auf. „Sie sind sogar singend zur Arbeit gegangen“, erzählte er später.

Viel konnten die Frauen beim Bäumefällen nicht ausrichten. „Die Zwangsarbeit war nichts als Schinderei“, schreibt Martha Grüner, eine Überlebende. „Ein Mädchen von 16 Jahren sollte die zerstörte Sowjetunion wieder aufbauen helfen. Das war ein Hohn.“

Für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge steht der Friedhof von Padosero stellvertretend für alle Opfer der Zwangsarbeit. Im Oktober 1945 wurde das Lager geschlossen. Minderjährige und Kranke durften nach Deutschland zurückkehren, die meisten wurden auf andere Arbeitslager verteilt. Gustav Godlinski (59), gestorben am 9. Oktober 1945, war der letzte Tote in Padosero.

* Dieser Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung Nr. 489 (02).

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