Als man mir 1979, genau vor 40 Jahren die Arbeit in der „Roten Fahne“ vorschlug, zweifelte ich nicht lange. Was hätte ich auch, falls daraus nichts geworden wäre, verloren? Konnte ich doch zu jeder Zeit in die Schule zurückkehren. So wechselte ich kurz entschlossen den Beruf.
Die „Rote Fahne“ kannte ich nicht nur vom Hörensagen. Noch als Kind las ich darin mit der Großmutter. In der Schule lasen wir daraus in den Deutschstunden. Später abonnierte ich sie als Studentin der Slawgoroder Pädschule und als Deutschlehrerin verstand ich bald, wie wichtig diese Zeitung für den Deutschunterricht ist. Als ich nach Kasachstan umsiedelte, blieb ich auch hier ständige Leserin der „Roten Fahne“, obwohl es nicht immer einfach war, sie zu bestellen. Die Zeitung war für mich immer eine gute Hilfe beim Deutschunterricht.
Drei Monate als Korrektorin, drei Jahre als Korrespondentin der Parteiabteilung, seit 1982 stellvertretende Chefredakteurin und seit 2006 bis zur Gegenwart wieder Korrespondentin – das ist mein 40-jähriger Weg in der „Roten Fahne“, ab 1991 bis heute „Zeitung für Dich“.
Der Anfang war schwer. In der Zeitung arbeiteten damals solche Sprachkenner wie Woldemar Spaar, Edmund Günther, Alexander Beck und Andreas Kramer. Wir nannten diese großen Schriftsteller, mit einem vollen Sack Erfahrungen und allgemeiner Anerkennung auf dem Buckel, „Althasen“. Mit ihnen verkehrend, wurde mir bald bewusst, wie wenig ich, Absolventin der Fakultät für deutsche Sprache und Literatur an der Koktschetawer Hochschule, von der deutschen Sprache kannte. Es hieß nun mühselig arbeiten, um verständlich, zudem noch orthographisch, grammatisch und stilistisch richtig schreiben zu lernen. Es gab Zeiten, da einem der Mut ausging, insbesondere, wenn die „Althasen“ einen scheint`s so gut geschriebenen Artikel kreuz und quer durchstrichen, und er im Korb landete. Dann aber wurde der Ehrgeiz wach: Die anderen schaff en es doch, warum nicht auch du? Und ich fasste Mut und nahm mir entschieden denselben Artikel vor, um ihn völlig neu, aus einer anderen Sicht und mit anderen Worten zu schreiben.
Und als die „Althasen“ in den Ruhestand traten, und ich selbst die Artikel meiner jüngeren Kollegen korrigieren musste, wurde mir bewusst, wie viel Zeit und Mühe es ihnen kostete, meinen „unreifen“ Materialien den letzten Schliff zu geben. Man erklärte mir nicht allzu oft, warum eben dieses Wort oder jene Redewendung in diesem oder jenem Fall passender sei. Umso eifriger blätterte ich in allen möglichen Wörterbüchern, um dahinterzukommen. Aber vielleicht war es auch besser so? Doch als ich später die Berichte der angehenden jungen Journalisten korrigierte, bemühte ich mich, immer korrekt zu bleiben und nur das Nötigste auszubessern, und schon gar nicht erlaubte ich mir, die Artikel kreuz und quer durchzustreichen, denn ich erinnerte mich noch genau an meine schmerzlichen Gefühle, als man das mit meinen ersten Berichten machte.
Was mir die Arbeit in der deutschen Zeitung gab? Vor allem gute Sprachkenntnisse, Verkehr mit interessanten Leuten und die Möglichkeit, mein Scherflein zur Bewahrung meiner Muttersprache beizutragen. Mit der Zeit wurde mir immer deutlicher bewusst: Die tägliche Arbeit in der Zeitung besteht nicht nur darin, gute Nachrichten zu schreiben und interessante Recherchen anzustellen, sondern auch in der Fähigkeit, Verständnis für die Menschen zu finden und mit jeder Situation zurechtzukommen. Ich habe diese Arbeit liebgewonnen und bin mit der Zeitung sozusagen zusammengewachsen.
Mit jedem Artikel kamen ein bisschen mehr Erfahrungen. Die Teilnahme an den Journalisten-Seminaren in Lüberzy und Deutschland gab mir die Möglichkeit, mich in Theorie und Praxis zu üben, und die alltägliche Tätigkeit gab ein breites Feld, an den Kenntnissen zu feilen und sie an den Tag zu bringen.
Noch als Korrespondentin der Parteiabteilung kümmerte ich mich neben der Pflichtberichterstattung über Parteiorganisationen gern um soziale Fragen und Altenpflege. Aber noch mehr Spaß an der Arbeit hatte ich in den Jahren, da ich für die Schul- und Erziehungsfragen zuständig war. Da war ich wieder in meinem Element. Als ehemalige Deutschlehrerin konnte ich mich leicht in die Lage der Deutschlehrer versetzen und demgemäß meine Arbeit gestalten.
Noch interessanter, aber auch anstrengender, wurde es, als man mich als stellvertretende Chefredakteurin einstellte. Es war eine ehrwürdige Verpflichtung, die allerdings aber auch große Verantwortung gegenüber meinen Kollegen innehatte. In den Jahren meiner Tätigkeit in der deutschen Zeitung versuchten sich viele Leute in der deutschen Journalistik. Einige hielten nicht durch und gingen wieder weg, aber ein gewisser Kern blieb. Die „Althasen“ gingen in den Ruhestand, eine neue Generation übernahm die Verantwortung für die Zeitung. Emma Rische, Rudolf Erhardt, Olga Bader, Alexander Richter, Nina Paulsen, Nina Zerr, Johann Bairit, Lubow Koslowa, gingen bei den Altmeistern in die Schule und sammelten Erfahrungen, um eine andere neue Zeitung zu gestalten. Nicht wenige reisten später nach Deutschland. Ihr Weggang war immer ein schmerzhafter Verlust für die Redaktion, und für sie alle ein schmerzvoller Abschied von der Zeitung, der sie lange Jahre treu blieben.
An ihre Stelle kamen andere, jüngere Leute. Josef Schleicher, Natalia Breinert, Amalia Schäfer, Oksana Ossipowa, Larissa Kandraschowa, Tatjana Tkalenko, Jewgenija Jewmenenko, Maria Alexenko, Swetlana Djomkina, Olga Schtscherbina, Anna Ernst – all sie gaben sich Mühe, die langjährigen Traditionen der deutschen Zeitung fortzusetzen und jeder brachte etwas Eigenes mit in die Atmosphäre der Redaktion, die trotz allen Schwierigkeiten immer wohlwollend und friedlich blieb. Neben anstrengenden Stunden gab es auch wunderbare und fröhliche. Oft wurden in den Mittagspausen 3–4 Tische im Raum der Korrektoren zusammengeschoben, und es wurden Geburtstage oder auch andere Ereignisse im Leben der Kollegen gefeiert. In diesen Stunden wurde gescherzt, gelacht und gesungen. Und nach der Mittagspause ging`s mit voller Verantwortung und Disziplin wieder an die Arbeit.
Wie schmerzhaft traf es uns alle, als es Mitte der 2000er Jahre hieß: Die deutsche Zeitung soll eingestellt werden. Es blutete mir das Herz, wenn ich daran dachte, was jetzt aus den jungen Leuten, die die Arbeit in der Zeitung liebgewonnen hatten, werden sollte.
All unsere Bemühungen, die Zeitung am Leben zu erhalten, blieben erfolglos. Unser Hilferuf an die damals bestehenden gesellschaftlichen Organisationen der Russlanddeutschen und an die örtlichen Mächte traf auf taube Ohren. Die jungen Journalisten mussten gehen. Letztendlich fanden sie alle neue Arbeitsstellen, aber immer noch erinnern sie sich warm an die Jahre in der „Zeitung für Dich“.
Im Dezember 2005 erschien dann die letzte Ausgabe der „Zeitung für Dich“ im alten Format. Doch das war noch nicht das endgültige Ende der Zeitung. Im Januar des darauff olgenden Jahres erschien die erste Ausgabe der erneuerten „Zeitung für Dich“. Die Zeitung lebt, obwohl in einer ungewohnten Erscheinungsweise. In diesem Jahr begeht sie ihren 62. Geburtstag. Und in all diesen Jahren blieb die Zeitung deutsch und zeitgemäß. Im Vordergrund der Redaktionstätigkeit standen immer der enge Kontakt mit dem Leser sowie die Popularisierung der deutschen Sprache und der russlanddeutschen wie gesamtdeutschen Kultur und Geschichte. In den letzten Jahren bemüht sich die ZfD-Redaktion in Kooperation mit dem Slawgoroder Unternehmer Jakow Grinemaer und dem Internationalen Verband der deutschen Kultur (IVDK, Moskau) wieder um verstärkte Verlagstätigkeit. Das literarische Erbe der deutschen Autoren, die mehrheitlich zu den Mitarbeitern der „Roten Fahne“ gehörten, wird wieder durch Literaturlesungen unter dem Motto „Sonne über der Steppe“ dem Leser nahegebracht. Auch sie knüpfen an die langjährige literarische Tradition, die Jahrzehnte davor von der deutschsprachigen Zeitung aufrechterhalten wurde.
Es freut mich, dass auch ich 40 Jahre, das heißt zwei Drittel der gesamten Zeitungsgeschichte, mit dabei war. Ich bin stolz darauf, was ich in diesen Jahren geleistet habe. Eine große Freude wurde für mich, dass im letzten Jahr meiner Arbeit bei der Zeitung mein langjähriger Wunsch in Erfüllung ging: Ein Lesebuch für Kinder unter dem Titel „Aus Omas Truhe“ erschien und fand in breiten Leserkreisen Anerkennung. Ich bedanke mich bei allen, die mitmachten und mich allseitig unterstützten.
Im August dieses Jahres trete ich in den Ruhestand, doch das heißt nicht, dass ich endgültig Abschied von meiner lieben Zeitung, der ich mehr als die Hälfte meines Lebens widmete, nehme. Nach wie vor werde ich meinen Kollegen nach Kräften mit Wort und Tat beistehen und mein Bestes tun, dass die „Zeitung für Dich“ auch weiterhin im Dienste der deutschen Volksgruppe steht und zum Erhalt und Pflege der Muttersprache beiträgt.
*Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung für Dich.