Der Untergang an der Newa: Zwei Jahrhunderte lang prägten Deutsche die Stadt St. Petersburg. Dann kam die Revolution

Sie kamen im 18. Jahrhundert und wurden mit der Zeit zu treuen Untertanen des Zaren: In St. Petersburg lebten lange mehrere Zehntausend Deutsche und prägten der Stadt ihren kulturellen und geschäftlichen Stempel auf. Ein Buch erinnert nun an diese längst vergangene Epoche.

Als Oskar Böhme an diesem Julimorgen des Jahres 1935 in Orenburg aus dem Zug tritt, liegt sein früheres Leben in Scherben. Niemand erwartet den nicht sehr groß gewachsenen Mann mit dem grauen Schnurrbart, niemand freut sich über seine Ankunft in der abgelegenen Provinzstadt an der kasachischen Grenze. Denn der 65-jährige Deutsche ist Verbannter. Rund 2200 Kilometer hat er mit der Bahn aus der Stadt an der Newa, wo er die vergangenen 37 Jahre seines Lebens verbracht und eine glänzende Karriere hingelegt hat. Aber das ist nun alles Geschichte – und Böhme hat nur noch drei Jahre zu leben. Doch das kann er nicht wissen.

Dabei hatte alles so hoffnungsvoll begonnen. Der begnadete Musiker und Trompeter, dessen tragisches Schicksal der langjährige Spiegelkorrespondent in Russland Christian Neef in seinem neuen Buch „Der Trompeter von Sankt Petersburg. Glanz und Untergang der Deutschen an der Newa“ nachzeichnet, war im Jahr 1898 in die Stadt an der Newa gekommen.

Die Suche nach einer einträglichen Festanstellung hatte den 1870 im sächsischen Potschappel geborenen Virtuosen auf dem Kornett, einer Kreuzung aus Horn und Trompete, nach Russland geführt. Schnell konnte er sein Ziel in der musikbegeisterten Metropole umsetzen. Nach ersten Schritten als Komponist und Musiklehrer wird Böhme 1902 Kornettist am renommierten
und weltbekannten Mariinskij-Theater. Der Musiker, inzwischen auch mit einer russischen Frau verheiratet, ist angekommen.

Böhme ist einer von rund 50 000 Deutschen, die um die Jahrhundertwende in Sankt Petersburg leben. Seit rund 200 Jahren prägt die nach den Russen größte ethnische Gruppe maßgeblich das Schicksal der Stadt. Schon 1730 stand ihre evangelische Hauptkirche Sankt Petri am Newski-Prospekt. Deutsche betrieben Fabriken, Handelshäuser und Apotheken, arbeiteten als Zimmerleute auf den zahlreichen Werften und besiedelten als Würstemacher und Brauer ganze Straßenzüge auf der Wassili-Insel. Der Zar vermählt seine Nichten mit deutschen Prinzen, russische Großfürsten heiraten in deutsche Fürstenhäuser ein, immer wieder steigen Deutsche zu Ministern und anderen hohen Posten am Hof auf. Ein Drittel der Geschäfte und Läden am berühmten Newski-Prospekt ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts fest in deutscher Hand. Es gibt deutsche Vereine, Gesellschaften und Klubs. Zwei deutschsprachige Zeitungen informieren über Klatsch, Politik und Neuigkeiten.

Doch mit Beginn des Ersten Weltkrieges wird das Leben der Deutschen zunehmend schwerer. Nach der Kriegserklärung aus Berlin verwüstet ein aufgebrachter Mob die deutsche Botschaft, Stücke von Goethe und Wagner verschwinden aus den Spielplänen der Opernhäuser, viele Deutschstämmige werden in die russische Provinz verbannt. Wiederholt werden Bürger, die
öffentlich Deutsch sprechen, von Passanten spontan zur nächsten Polizeistation geschleift. Auf dem Höhepunkt des nationalistischen Furors beschließt Nikolaus II. die Umbenennung von St. Peterburg in Petrograd. Nichts soll mehr an die deutschen Traditionen der Stadt erinnern.

Oskar Böhme ist mittlerweile russischer Staatsbürger und übersteht die angespannte Zeit trotz materieller Engpässe verhältnismäßig gut. 1916 wird er – mitten im Krieg gegen Deutschland – sogar befördert und zum ersten Kornettisten des Mariinskij-Theaters ernannt. Böhme ist nun 46 Jahre alt und hat alles erreicht. Doch am Horizont ziehen dunkle, blutrote Wolken auf.

1917 übernehmen die Bolschewiki in der Stadt die Macht, verstaatlichen und enteignen deutsche Geschäfte, Kirchen und Bankguthaben. Viele verlassen fluchtartig das Land, das ihnen seit
Generationen ein Zuhause geboten hatte. Am Mariinskij-Theater bestimmen bald die Revolutionäre, die ein Ende des bürgerlichen Amüsements fordern, das Programm. Viele Musiker wechseln ins Ausland.

Doch für Oskar Böhme ist eine Ausreise wesentlich komplizierter. Seit dem Jahr 1901 ist er russischer Staatsbürger, seinen deutschen Pass hat er längst abgegeben. Er beschließt zu bleiben – und geht zunächst als Musiker zur Roten Armee. Am Theater kann er danach nicht mehr Fuß fassen, schlägt sich als Leiter eines Blasorchesters durch und komponiert. Trotz quälender Geldsorgen kann sich Böhme in den folgenden Jahren nicht zu einer Ausreise durchringen.

Das wird ihm im Jahr 1935 zum Verhängnis: Die Bolschewiki verurteilen ihn als Konterrevolutionär zu drei Jahren Verbannung nach Orenburg. Im Oktober 1938 wird Oskar Böhme dann erneut verhaftet – und als Volksfeind in einem NKWD-Keller erschossen.


Buch Der Trompeter von Sankt Petersburg

200 Jahre in Russland: In seinem neuesten Buch erzählt der Spiegeljournalist Christian Neef vom Leben und dem Untergang der deutschsprachigen Gemeinde von Sankt Petersburg. Mit vielen Fotos und Abbildungen, Siedler Verlag, München 2019, 384 Seiten, 38,90 Euro.


Der Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung Nr. 14 (501)/2019.

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