Nelli Artes wurde in eine russlanddeutsche Familie in dem kleinen Dorf Prischib in der Republik Baschkortostan geboren. Das Dorf wurde von deutschen Umsiedlern, darunter auch von ihrer Oma und ihrem Opa, gegründet. Ende 2021 wurde sie zur Vorsitzenden des Jugendrings der Russlanddeutschen ernannt, den sie von ihrem Heimatdorf aus leitet. Dabei verbindet sie geschickt aktive ehrenamtliche Arbeit mit der Erziehung ihrer beiden Söhne in deutsch-baschkirischer Tradition.
Welche Ergebnisse hat der JdR in den sechs Monaten ihrer Leitung erzielt und wie war ihre Kindheit in einer deutschen Siedlung? In einem Interview mit RusDeutsch spricht Nelli über die Geschichte ihrer Familie, einen seltenen Dialekt, das deutsche Lieblingsgericht ihres Mannes und ihrer Kinder, das baschkirische Tschak-Tschak, die Kuh des Nachbarn auf dem Dach und die ungewöhnlichen Pappeln in Prischib. Außerdem erzählt sie, wie sie fast Leiterin einer Abteilung in der Fabrik für Porenbeton geworden wäre, und erklärt, warum sie sich der russlanddeutschen Bewegung angeschlossen hat.
Nelli, Sie wurden in eine deutsche Familie geboren: Sowohl Ihre Eltern als auch Ihre Großeltern sind Russlanddeutsche. Erzählen Sie uns ein wenig von Ihrer Familie. Wie haben sie in Baschkortostan Fuß gefasst?
Wie ich von meinem Opa und meiner Oma aus der Familiengeschichte erfahren habe, sind die Deutschen aus dem Gouvernement Taurien nach Baschkirien umgesiedelt. Während der Agrarreform um das Jahr 1903 wurden sie hierher eingeladen, um das Land zu erschließen. So entstanden elf deutsche Siedlungen im Gebiet Blagowarski in Baschkortostan. Meine Oma mütterlicherseits wurde in der deutschen Kolonie Marienfeld in der Ukraine geboren. Ich habe es aus ihrer Geburtsurkunde erfahren. Danach zogen sie hierher. Meine Großmutter väterlicherseits wurde hier in dem Dorf Basilewka geboren. So kam es, dass Papa in einem der deutschen Dörfer lebte und Mama in einem anderen. Sie gingen jedoch auf dieselbe Schule, lernten sich dort kennen und heirateten später. So wurde ich geboren.
Ihre Vorfahren waren also echte Pioniere, die zu den ersten gehörten, die dieses Land besiedelten und deutsche Siedlungen aufbauten?
Ja, das ist richtig. Momentan verbringe ich die meiste Zeit in meinem Heimatdorf Prischib. Ich liebe es, hier durch die Straßen zu spazieren. Hier gibt es viele Pappeln, die von den ersten Siedlern im Jahr 1903 gepflanzt wurden. Die Deutschen haben diese Bäume mitgebracht! Sie sind anders als die einheimischen Pappeln: kräftiger und verzweigter. Früher gab es auf dem Territorium von Baschkirien viele sumpfige Orte und somit brachten die Umsiedler Pappeln mit und pflanzten sie in den Siedlungen, damit die Bäume dem Boden Feuchtigkeit entziehen konnten.
Das ist erstaunlich! Die Menschen hatten einen unglaublich langen Weg und sie schleppten trotz alledem Bäume und andere sperrige Dinge wie Klaviere mit sich. Das ist schön, wie sehr sie damals ihre Hobbys und Talente schätzten.
Gibt es in Ihrer Familie irgendwelche Erbstücke, die von Generation zu Generation weitergegeben werden?
Einige Haushaltsgeräte sind erhalten geblieben: ein Waffeleisen, ein Bügeleisen und ein Spiegel. Und auch Bücher. Meine Eltern wohnen in der Nähe. Meine Mama benutzt immer noch das alte Waffeleisen meiner Großmutter. Wir haben heute noch darüber gesprochen. Mein Sohn kam von der Schule und sagte: „Mama, ich muss einen Aufsatz über die Küche meines Volkes schreiben.“ Und wir haben uns an die Waffeln erinnert. Es stellte sich heraus, dass das Waffeleisen damals nicht nur zur Herstellung von süßem Gebäck, sondern auch von Fladenbrot für Borschtsch verwendet wurde.
Sie sind in einem sehr kleinen Dorf mit weniger als tausend Einwohnern aufgewachsen. Es ist ein Dorf mit deutscher Geschichte und starkem nationalem Einfluss. In was für einer Atmosphäre sind Sie aufgewachsen?
Als Kind denkt man nicht über so etwas nach. Fast alle Einwohner waren Deutsche. Es gab viele Verwandte und jeder kannte jeden. Als ich das erste Mal an einem russlanddeutschen Projekt teilnahm, war ich überrascht, dass nicht alle Deutsch sprachen oder dass in der Familie einiger Teilnehmender nur einer der Verwandten deutsche Wurzeln hatte. Denn für uns waren alle Traditionen wie selbstverständlich, so, als würde es sie überall geben. Zum Beispiel ist Weihnachten für uns wichtiger als Silvester. Ostern ist für das Kind ein ganz besonderes Fest. Damals haben wir Nester für die Ostereier gebastelt.
In der Nacht vor Ostern spielten die Bewohner kleine Streiche. Zum Beispiel wurde die Wäsche von der Wäscheleine genommen und bei einer Oma am anderen Ende des Dorfes aufgehangen. Oder die Kuh des Nachbarn wird auf das Dach geführt, oder das Gitter wird weggemacht. Es gab noch eine Tradition, und zwar, wenn einem Jungen ein Mädchen gefiel, legte er einen Weg aus Stroh von seinem Haus zu ihrem Haus.
Am nächsten Morgen konnte man all diese Überraschungen sehen. Heute werden die Traditionen weniger eingehalten, aber die eine oder andere ist immer noch präsent. Zu Ostern basteln wir Nester und färben Eier, und zu Weihnachten kommt der Pelznickel.
Sie sprechen seit Ihrer Kindheit Deutsch und haben erst in der Schule angefangen, Russisch zu lernen. Mir hat ein Zitat aus einem Ihrer Interviews gefallen: „In der Schulpause haben wir uns in einem Dialekt unterhalten.“ Nicht jeder Russlanddeutsche spricht Deutsch. Aber Sie können sogar Mundart sprechen... Erzählen Sie uns etwas über den Dialekt.
Ja, so war es! In meiner Diplomarbeit ging es um diesen Dialekt und mein Betreuer und ich haben lange darüber nachgedacht, wie ich das Thema nennen soll. Im Endeffekt haben wir es einfach „Der Dialekt der Sprachinsel Prischib, Gebiet Blagowarski“ genannt. Es ist dem Schwäbischen und Sächsischen recht ähnlich. Der Dialekt hat viele Wörter, die Deutsche aus dem Russischen entlehnt, aber auf eine deutsche Art und Weise verändert haben.
Sprechen Sie auch heute noch den Dialekt?
Natürlich! Bei meinen Eltern zu Hause sprechen wir nur diesen Dialekt und im Dorf gibt es immer noch Einwohner, die auch diese Mundart sprechen. Untereinander verständigen wir uns in diesem Dialekt.
In Ihrem beruflichen Werdegang als Übersetzerin gibt es eine besondere Phase, in der Sie in einer deutschen Fabrik gearbeitet haben. Wie war es, in einem überwiegend männlichen Team und in einem technischen Bereich zu arbeiten?
Kein sehr weiblicher Beruf, oder? Ich habe 2009 mein Studium absolviert und fragte mich, wo ich arbeiten könnte. Viele deutsche Unternehmen hatten sich damals vom Markt zurückgezogen, und ich war mehr an einer Tätigkeit als Übersetzerin als an einer als Lehrerin interessiert. Ich wurde zu einer Fabrik eingeladen und beschloss, dem Ganzen eine Chance zu geben. Meine ersten Eindrücke: Am Anfang war es schwer. Um mich herum waren ganz viele Männer, die eine ganz andere Wahrnehmung hatten und den gesamten technischen Prozess in- und auswendig kannten. Und ich weiß nur das, was ich an der Universität in der Fachübersetzung und im Alltag gelernt habe. Aber nach einer Zeit kam ich gut zurecht. Ich habe mich sehr schnell daran gewöhnt, und es war mir alles sehr vertraut. Ich erinnere mich noch gut an diese Zeit und bin stolz darauf, sagen zu können: „Wir haben Porenbeton hergestellt.“

Nelli Artes während ihrer Arbeit in der Fabrik für Porenbetonsteine in Ufa, 2010
Фото: Privates Archiv von Nelli Artes
Als wir den Betrieb aufnahmen, wurde mir die Stelle der Leiterin einer Abteilung in der Fabrik angeboten! Das kam äußerst unerwartet, denn ich hatte keine Ausbildung im Bereich der Technik. Aber ich wusste, wie jedes Gerät funktionierte. Ich fragte mich, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich meinen Beruf drastisch ändern würde. Aber das Erlernen der deutschen Sprache hat mich aus diesem Umfeld herausgeholt. Das war die denkwürdigste Erfahrung, die ich als Übersetzerin gemacht habe! Es war auch insofern hilfreich, dass ich gelernt habe, wie ich mit verschiedenen Menschen einen gemeinsamen Nenner finden kann.
Für mich geht es bei der Übersetzung immer um Kommunikation und Emotionen. Um ehrlich zu sein, mochte ich es noch nie lange Zeit an Übersetzungen zu sitzen. Schon seit der ersten Klasse bin ich eine Aktivistin! Heute übersetze ich noch ab und zu, oder ich spreche für Filme oder Märchen.
Aber meine Präferenzen sind die ehrenamtliche Arbeit und die Familie.
„Eine Aktivistin seit der ersten Klasse“ – welch ausgezeichnete Aussage. Können Sie uns die wichtigsten Bezugspunkte nennen, wie Sie sich in der russlanddeutschen Bewegung entwickelt haben?
In der Schule brachte uns unsere Deutschlehrerin deutsche Lieder bei, wir führten Auftritte durch und traten zu Ostern, Weihnachten und zum Erntedankfest auf. Als ich in die sechste Klasse kam, wurde bei uns ein deutsches Begegnungszentrum eröffnet und meine Freundin sagte zu mir:
„Nelli, lass uns hingehen!“
„Wie unterscheidet es sich von dem, was wir in der Schule machen?“
„Da ist alles viel ernster.“
Die Leiterin des Zentrums ließ uns alles selbst machen. Wir haben Szenarien ausgewählt und uns auf die Feierlichkeiten vorbereitet. Wir hatten einen Raum, in dem wir unser eigenes Museum einrichteten.
Ihr eigenes Museum in der sechsten Klasse?
Ja! Natürlich hat uns die Leiterin unter die Arme gegriffen. Zu dieser Zeit verließen viele Menschen die Siedlung und ließen etliche Dinge zurück. Wir haben im Zentrum verschiedene Gegenstände, die zur Kultur und dem täglichen Leben gehören, gesammelt. So ging ich von der 6. bis zur 11. Klasse in unser deutsches Begegnungszentrum. Als ich an der Universität in Ufa mein Studium anfing, war mein Studentenleben sehr lebhaft: Es gab Übersetzungswettbewerbe und die Gewerkschaft. Es war immer etwas los. Deshalb habe ich für mich die russlanddeutsche Bewegung pausiert. Im Jahr 2016 kehrte ich in die Gemeinschaft zurück. Eine Freundin von mir fand die Anzeige auf der Website „Alle Wettbewerbe“ und sagte: „Nelli, du liebst doch so etwas.“ Ich musste eine Passage aus einem Roman übersetzen. Also habe ich mich beworben und es im Nachhinein vergessen. Ein paar Monate später erhielt ich einen Anruf vom Internationalen Verband der deutschen Kultur, der mich zu einer Preisverleihung in Berlin einlud. Es war der Wettbewerb „Freunde der deutschen Sprache“. Daraufhin gab es ein kulturgeschichtliches Seminar vom BiZ in Deutschland, die Avantgarde, nochmals „Freunde der deutschen Sprache“ und ich erhielt wieder den ersten Platz.
Bei einem Sprachkurs in Bayreuth lernte ich Nastja Gawrilenko kennen, die mich zu meinem ersten Projekt des JdR, der „LeadersSchule“ in Tomsk 2018, einlud. Dort lernten wir Jewgeni Wagner kennen. Daraufhin habe ich den deutschen Jugendklub „Immer fit“ in Ufa gegründet. Und dann ging es richtig los!
Ich bin allen sehr dankbar, die ich auf dem Weg der Realisation getroffen haben. Deshalb liebe ich den JdR, weil wir alle offen sind und uns gegenseitig helfen.
Nach jeder Veranstaltung bin ich unendlich froh zu sehen, wie viele Gleichgesinnte es gibt!
Nelli, was war Ihre eigentliche Motivation, Leiterin des JdR zu werden?
Die Selbstorganisation hat mein Verständnis von Familie erweitert. Wahrscheinlich ist die persönliche Motivation der Wunsch, die eigene innere Insel der Bewahrung der Kultur sowie der Geschichte zu erweitern. Wenn man klein anfängt, in der Familie – in der die Mutter, die Schwester, die Nichte und die Kinder helfen –, wo die Traditionen aktiv unterstützt werden, dann will man es irgendwann in größerem Umfang tun.
Und ich interessiere mich sehr für interkulturelle Entwicklung. Mein Mann hat eine andere Nationalität, und unsere Kinder wachsen in zwei Traditionen auf. Diese Kommunikation zwischen den Völkern ist in der heutigen Welt äußerst wichtig.
Wir haben hier Menschen aus vielen Regionen, und diese Abläufe sehen in allen unterschiedlich aus. Es ist interessant, dies zu beobachten und weiterzuentwickeln.
Sie sind seit etwa sechs Monaten Leiterin des JdR. Was sind die Zwischenergebnisse und was wurde bisher erreicht?
Ich bin froh, dass wir zu Beginn des Jahres eine Arbeitssitzung der Leitungsorgane abhalten konnten. Wir haben einen Wettbewerb zum Verfassen eines Aufsatzes mit dem Titel „Meine deutschen Wurzeln“ veranstaltet. Mehr als 50 Schülerinnen und Schüler haben ihre Arbeiten eingereicht. Das ist die jüngere Generation der Mitglieder des JdR. Anlässlich unseres Jubiläums – der JdR wurde in diesem Jahr 25 Jahre alt – wurden Sitzungen abgehalten. Es war sehr interessant und erfreulich, mehrere Generationen von den Mitgliedern des JdR zu sehen. Es ist großartig, dass die Organisation so lebhaft ist, dass die Menschen miteinander kommunizieren und bereit sind, ihre Erfahrungen zu teilen. Diese Offenheit ist ein wichtiger Teil der Zwischenergebnisse. Wir organisierten Übungen zum Erlernen der Regeln des Spiels „Der Weg zu einer Nichtregierungsorganisation“. Wir haben die Passportisierung durchgeführt und alle neuen Klubs berücksichtigt. Es gibt eine Vielzahl von Ideen. Wir gehen davon aus, dass wir alle für das Jahr 2022 geplanten Projekte verwirklichen werden. Wir erwarten einen arbeitsreichen Sommer, einschließlich einer Expedition. Momentan veranstalten wir Webinare zu den Projektaktivitäten: Zum Beispiel lernen die jungen Menschen, wie man Bewerbungsformulare für Förderwettbewerbe schreibt. Im Allgemeinen ist jeden Tag viel los, es gibt eine Menge Anrufe. Man ist ständig in einem Gespräch, man nimmt Kontakt zu den anderen Regionen auf und man sieht, wie viele es von uns gibt. Wir alle tun etwas für die allgemeine Entwicklung. Das ist äußerst wichtig.
Zum Abschluss unseres Interviews möchte ich noch einmal auf das Thema Familie zurückkommen. Ihr Mann ist baschkirischer Nationalität, Sie sind Russlanddeutsche. Wie verbinden Sie die verschiedenen Traditionen innerhalb Ihrer Familie?
Ganz einfach. Die Kinder wissen, dass es Weihnachten gibt, und wir verbringen die Feiertage gemeinsam als Familie. Sie kennen die muslimischen Feiertage, die in Baschkirien gefeiert werden. Sie wissen, dass es Kirchen und Moscheen gibt. Sie wissen, dass ihre Mutter Deutsch spricht und sie selbst kennen auch einige Wörter oder Sätze.
Sie wissen, dass eine ihrer Urgroßmütter nur Baschkirisch und die andere nur einen deutschen Dialekt spricht. Die Kinder sehen sofort die ganze Vielfalt der Welt und verstehen, dass es auch so sein sollte.
Ich glaube, dass sie großes Glück haben. Sie bekommen jede Menge Geschenke zu den verschiedenen Feiertagen.

Ihre Kinder Rolan und Alan bei ihrer Suche nach Osternestern, 2019
Фото: Privates Archiv von Nelli Artes
Kochen Sie zu Hause irgendwelche nationalen Gerichte? Deutsche, oder vielleicht baschkirische?
Natürlich! Es haben sich beide Küchen in der Familie durchgesetzt. Das meistgekochte deutsche Lieblingsgericht in unserer Familie ist Strudel mit Sauerkraut und Schweinerippchen. Wenn wir bei meiner Mutter zusammenkommen, ist unsere gesamte deutsche Küche mit Liebe gefüllt und mit der Heimat verbunden. Als meine Großmutter in Russland lebte, backte sie für uns alle Rievelkuchen. Gekocht wurde von morgens bis abends. Wir hatten viele Tanten und Onkel, und meine Oma hat für die ganze Familie gekocht! Ich erinnere mich, wie ich diesen Kuchen in der Eiseskälte auf einem Schlitten mitnahm. Eine solch warme Erinnerung an meine Kindheit. Auch die baschkirische Küche ist bei uns präsent. Dazu gehört zum Beispiel Wak Beljasch. Während der Projekte im JdR werde ich auch mit Tschak-Tschak assoziiert: „Nelli kommt gleich und bringt Tschak-Tschak mit“. Wir haben in dem JdR eine Tradition:
Wenn wir zusammenkommen, bringt jeder etwas Besonderes aus der Heimatregion mit. Diese Art des interkulturellen Dialogs ist großartig.
Man hat eine eigene kleine Insel innerhalb der Familie und gleichzeitig lebt man aber auch mit Verständnis für andere. Man weiß, wie man ein gutes Leben auf der ganzen Welt führt.
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge