„Eigengrau“ ist ein Dokumentarfilm über die Deportation und die Rolle der Religion in der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen und gleichzeitig auch die Abschlussarbeit des jungen Regisseurs Nikita Saraschewskij. Zugleich ist es ein sehr persönlicher Film über die Suche nach der eigenen Identität. RusDeutsch sprach mit dem angehenden Filmemacher über den Film, die Bedeutung des Titels und seine Familiengeschichte.
Die Geschichte der Russlanddeutschen und der Deportation aus der Wolgaregion wird nicht mit traditionellen Erzähltechniken eines Dokumentarfilms erzählt, sondern durch ein Gespräch mit einem Pastor. Wie sind Sie auf diese Idee für Ihre Abschlussarbeit gekommen? Warum haben Sie sich dafür entschieden, sich speziell auf den religiösen Aspekt im Leben der Russlanddeutschen zu konzentrieren?
Zunächst möchte ich sagen, dass ich persönlich dazu neige, dies als traditionellen Dokumentarfilm zu betrachten, da Interviews die wichtigste Informationsquelle in solchen Filmen sind. Zusätzlich konnten unkonventionelle Techniken verwendet werden.
Was die Idee betrifft, so fällt es mir schwer, mich jetzt daran zu erinnern, was der Auslöser für diesen Film war, aber es gab eine große Besessenheit. Es war, als würde ich von diesem Film geträumt haben.
Ich wollte einen Reflexionsfilm machen. Und ich habe mich bemüht, den Film so nah wie möglich an dem Konzept zu drehen, der mir vorschwebte, denn man muss verstehen, dass ein Studentenfilm ein Film ohne Budget und ohne viele Möglichkeiten ist. Man muss ein Gleichgewicht finden zwischen dem, was man will, und dem, was man kann.
Der religiöse Schwerpunkt entstand aus dem Wunsch, einen Film zu machen, der nicht populärwissenschaftlich oder ein anderer typischer Film über die Deutschen ist. Ich wollte etwas Neues schaffen.
Nach welchen Kriterien haben Sie sich die Drehorte und den Interviewpartner Pastor Wladimir Rodikow ausgewählt?
Vor den Dreharbeiten fand eine Vorbereitungsphase statt. Meine Kommilitonen, die ebenfalls an dem Projekt teilnahmen, und ich fuhren zu den künftigen Drehorten. Wir suchten nach einer Kirchenruine für die letzte Episode des Films. Alles andere wollte ich in Sorkino drehen, einem Ort, den ich seit Herbst 2020 kenne. Und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich dort drehen musste, und das Gespräch musste unbedingt mit Wladimir Rodikow stattfinden, obwohl ich ihn und seinen Namen überhaupt nicht kannte.
Ich sah nur Fotos vom Gottesdienst in der Kirche und glaubte fest daran, dass er es war, den ich suchte.
Während meiner Expedition besuchte ich den Gottesdienst. Daraufhin sprach ich ihn an und schlug ihm vor, in meinem Abschlussfilm mitzuwirken. Er nahm das Angebot, an dem Projekt teilzunehmen, sofort mit Begeisterung an, ohne dass meine vorbereitete Rede „warum es wichtig ist und warum wir genau Sie brauchen“ in den Einsatz kam. Es stellte sich heraus, dass es viel einfacher war als gedacht.
Ich nehme an, dass es auch für ihn wichtig war, in einem solchen Format darüber zu sprechen. Erst nachdem ich ihn kennengelernt hatte, erfuhr ich, dass er sich mit diesem Thema beschäftigt, selbst deutscher Abstammung ist und in Deutschland studiert hat. Es kann doch nur Schicksal gewesen sein!
Am Anfang des Films zitieren Sie den legendären sowjetischen Dokumentarfilmer Dsiga Wertow. Warum haben Sie beschlossen, Ihre Arbeit mit seinem Zitat zu beginnen?
Für mich ist das Werk von Dsiga Wertow die Grundlage der Dokumentation. Ich bin nicht sehr angetan von dem, was im Fernsehen gezeigt und Dokumentation genannt wird. Oder Filme, in denen wir nur den Helden beobachten und nichts Weiteres passiert. Einfach nur eine Live-Aufnahme. Dadurch, dass ich dieses Format jeden Tag in den sozialen Medien sehe, ist es mir bereits vertraut geworden. Es ist an der Zeit, etwas Neues zu entdecken und dabei die moderne Technologie zu nutzen. Dsiga war ein Experimentator, ein Innovator, und indem ich seine Arbeit als Grundlage nehme und neue Technologien darauf anwende, möchte ich den Dokumentarfilm selbst für junge Menschen interessant gestalten. Außerdem versuche ich, neue Möglichkeiten und Formate des Films zu entdecken. Deshalb ist mein Film auch eher eigen und experimentell. Aber so ist es deutlich interessanter, finden Sie nicht auch? Den Rezensionen nach zu urteilen, gefällt er der Zielgruppe der 16- bis 30-Jährigen. Ich sehe, wie sie über das, was sie gesehen haben, nachdenken und mit mir darüber diskutieren. Das heißt, ich bekomme ein Feedback, und das ist das Wichtigste.
Während des Gesprächs mit dem Pastor sagten Sie, dass Ihre Großmutter ebenfalls Deutsche ist und dass sie 1940 geboren wurde, zusammen mit ihrer Familie deportiert und infolgedessen von ihrem Großvater mütterlicherseits, die Russin ist, adoptiert wurde. Mit anderen Worten: Sie wurde schon in jungen Jahren von der deutschen Kultur und den Traditionen abgeschnitten und erhielt einen anderen Vor-, Vaters- und Nachnamen. Wie Sie erzählen, nannte sie sich scherzhaft Walter, die männliche Form von Walentina, dem Namen, den sie später bekam, und erinnerte sich daran, dass sie von anderen Kindern als Nazi beschimpft wurde. Woher wussten die anderen Kinder von ihrer Herkunft? Wie hatte sie es geschafft, ihre Identität, ihre Verbindung zur Familie ihres Vaters aufrechtzuerhalten und schließlich keine Angst davor zu haben, obwohl sie schikaniert wurde?
Ich musste die Erwähnung ihres älteren Bruders aus dem Film herausschneiden. Irgendwie schien die Tendenz des Films in die falsche Richtung zu gehen. Sie hatte also einen älteren Bruder, und ich glaube, er erzählte ihr von ihrer Herkunft. Oder ihre Adoptiveltern. Sie lebten in einem Dorf und dort weiß jeder alles.
Was ihre Identität betrifft, so war sie ihr ganzes Leben lang hinsichtlich ihrer Herkunft verschlossen und hat nicht viel darüber gesprochen. Offenbar hat eine schwierige Kindheit Spuren hinterlassen.
Eine Verbindung zu ihren deutschen Wurzeln hatte sie nicht. Laut ihr verstarb ihr Vater einige Jahre nach der Deportation in Sibirien. Sie und ihr Bruder waren die einzigen Deutschen im Dorf.
Was ist Ihr persönlicher Bezug zur russlanddeutschen Kultur? Welche Rolle hat Ihre Verbindung zur deutschen Kultur durch Ihre Großmutter für Ihr Leben und Ihre Identität gespielt?
Ehrlich gesagt, fällt es mir schwer, diese Frage zu beantworten. Es gab keinen Moment in meinem Leben, in dem sich meine ganze Familie zusammengesetzt und mir alles erzählt hat. Viele Jahre lang hatte ich die Geschichte meiner Familie nur bruchstückhaft kennengelernt. Und offensichtlich bin ich nicht mit deutschen Traditionen aufgewachsen.
Ich befinde mich jetzt in der Peripetie und suche nach Antworten auf die Fragen: Was ist die Identität und wer bin ich?
Und welche Rolle spielte die Verbindung... Es ist schwer, diese Frage auf Anhieb zu beantworten. Aber auf jeden Fall hätte es ohne diese Verbindung zu den Deutschen keinen Dokumentarfilm zu diesem Thema gegeben. Ich bin immer noch am Reflektieren und ich suche immer noch nach etwas Bestimmtem...
Außer Ihnen haben noch mehrere andere Filmemacher an dem Film mitgearbeitet, offenbar auch Absolventen. Warum haben sie sich entschlossen, an einem Film über ein so schwieriges und, man könnte sogar sagen, untypisches Thema für eine Abschlussarbeit teilzunehmen?
Ja, das sind meine Freunde und Kommilitonen. Genau wie ich wollen sie die Welt erkunden und neue Dinge lernen. Sie waren von dem Thema selbst, den Reisen und den Bekanntschaften beeindruckt. Als ich ihnen von der Idee für die Abschlussarbeit erzählte, sagten sie: „Ja, das dürfte interessant sein. So machen wir das“. Es war ihnen auch aus einem anderen Grund wichtig, sich an der Verwirklichung dieses Projekts zu beteiligen:
Sie wollten unbedingt, dass diese Art von Arbeit nicht nur innerhalb der Universität verbleibt, sondern dass sie auch nach Außen getragen wird. Ich bin ihnen dafür dankbar.
Auch für sie war es eine großartige Erfahrung, die ihnen bei ihren eigenen Projekten hilft. Ich kann nicht für sie sprechen, dass sie sich in das Thema vertieft haben, aber sie haben sich auf jeden Fall in den Sonntagsgottesdienst in Sorkino verliebt.
In der Vorbereitung auf das Interview sagten Sie uns, dass Sie sich dagegen entschieden haben, ein deutsches Lied an den Schluss des Films zu setzen, und dass Sie es bedauern, es so gemacht haben zu müssen. Warum gab es kein Lied am Ende des Films?
Was die Musik im Film betrifft, so gefällt mir die Tatsache, dass es viel Livemusik gibt. Und mein Lieblingsmoment im Film ist der, wenn das „Lied Nummer 203“ beginnt und ich den Text zusammen mit den Noten einblende, so als ob ich den Zuschauer mit einbeziehen und ihn zum Singen einladen möchte, so als wäre er auch in der Kirche.
Außerdem hatte ich die Idee, ein Volkslied für das Ende des Films zu verwenden. Ich kenne den Namen des Liedes nicht, aber ich fand ein Video auf YouTube und mir wurde geholfen, den Text zu erkennen und zu übersetzen. Ich bat den Musiker Aleksandr Romanow aus Barnaul um das Arrangement, und er schien ein gutes Gefühl für die Idee und die Atmosphäre des Liedes zu haben. Wir haben es sogar aufgenommen. Diana Emrich, eine Studentin des Instituts für Theater, die zufällig auch eine Nachfahrin von Deutschen ist, hat das Lied gesungen. Aber die Abgabefrist war sehr knapp, es gab einige Probleme, und der Film hat nur eine musikalische Begleitung für das Lied, was äußerst schade ist. Ich sagte doch: Es ist ein Studentenfilm. So etwas kommt vor.
Aber vielleicht ist das auch gut so, denn der Film hat eine Laufzeit von fast 30 Minuten, sodass er auf etwa sechzehn Filmfestivals gezeigt werden konnte. Aus irgendeinem Grund sind einstündige Filme bei Festivals nicht sehr beliebt.
Erzählen Sie uns etwas über die Symbolik in Ihrem Film. Was bedeutet der ungewöhnliche Titel?
Es ist das Wort für die Farbe, die einem erscheint, wenn man die Augen schließt oder sich im Dunkeln befindet.
In der Natur gibt es nichts Schwarzes.
Als ich das erfuhr, wollte ich das Wort verwenden, das wahrscheinlich eine Metapher für das Gefühl ist, das ich empfinde, wenn ich diese zerstörten Kirchen, Schwarz-Weiß-Fotos und Aufnahmen sehe sowie Erzählungen höre. All das lebt, sobald man die Augen schließt.
Aber ich bestehe nicht nur auf dieser Interpretation. Und für ein junges Publikum ist es ein neues Wort im Wortschatz.
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge