„Ich verspüre eine Mischung der Kulturen in mir“: Interview mit Irina Merker

Irina Merker kann sich ihr Leben ohne Kreativität nicht vorstellen. Vor einigen Jahren veröffentlichte sie ein Buch mit deutschen Familienrezepten, demnächst wird sie ihr kulinarisches Videoprojekt beenden und im letzten Jahr hat sie den Wettbewerb „Russlanddeutsche in der Avantgarde der Zukunft“ gewonnen und veröffentlichte ein Buch über die Werktätigen zwischen den 1930er- und 1950er-Jahren.

Wir sprachen mit Irina über ihre Liebe zur nationalen Küche, ihre Leidenschaft für Kreativität und darüber, wie man die Traditionen der Russlanddeutschen bewahren kann.

Irina, Sie wohnen doch in Perm. Ist das Ihre Heimatstadt?

Ich wurde in Kasachstan im Dorf Krasnyj Jar geboren und lebte im Dorf Abaj, bis ich 17 war. Nach der Schule wollte ich Jura studieren, aber in meiner Heimat konnte ich nur in eine pädagogische Hochschule gehen. Somit bin ich für mein Studium zu meiner Tante in das Gebiet Perm gezogen. Hier erwarb ich zwei Hochschulabschlüsse: Jura und Pädagogik. Daraufhin heiratete ich und bin somit in Perm geblieben.

Sind Ihre Eltern durch die Deportation in Kasachstan sesshaft geworden?

Ja, meine Großmutter und ihre vier Kinder wurden aus dem Kanton Marxstadt der Wolgadeutschen Republik deportiert. Sie lebte auf dem Gehöft Kippel, dessen Bewohner nach Angaben in den Archiven alle in das Gebiet Petropawlowsk deportiert wurden. Die Familie wurde in dem Gebiet Kökschetau abgesetzt und in den örtlichen Aul umgesiedelt. Mein Vater war damals zwei Jahre alt. So kam er nach Kasachstan. Meine Mutter nahm in den 1960er-Jahren an einer Reise der Jugendorganisation Komsomol teil, um Land zu erschließen. Meine Eltern lernten sich kennen, heirateten und sind in Kasachstan geblieben. Trotz der ablehnenden Haltung meiner Großmutter – sie war gegen interethnische Ehen und wollte, dass mein Vater eine Deutsche heiratet – gründeten sie eine Familie und bekamen drei Kinder.

Gab es in Ihrer Familie sowohl deutsche als auch russische Traditionen?

Ja. Wir lebten im Dorf und wir feierten alle Feiertage. Wir hielten alle Traditionen und Rituale ein, besuchten die Kirche und kochten nationale Gerichte aus der deutschen und russischen Küche.

Meine Mutter war gleichermaßen gut darin, Strudel und Pelmeni zu kochen. Heute verspüre ich eine Mischung der Kulturen in mir.

Irina, woher kommt Ihr Interesse an der Küche der Russlanddeutschen?

Ich bin in einer deutschen Familie aufgewachsen. Mein Vater ist Deutscher und meine Mutter ist Russin. Meine Mutter ging schon kurz nach meiner Geburt als Milchmädchen arbeiten, und ich wuchs bei meiner Großmutter Frida Merker auf. Sie wohnte zwei Häuser von uns entfernt. Ich habe meine Großmutter sehr geliebt. Sie hat viel gekocht und ich habe ihr immer dabei zugeguckt. Meine Mutter kochte sowohl russische als auch deutsche Gerichte, während meine Großmutter und Patentante hauptsächlich deutsche Gerichte kochten.

Ich war immer bei meiner Großmutter und half ihr, Nudeln fein zu schneiden, Riewel zu machen, Kompottkugeln zu drehen und die Rosinen für den Kissel auszusortieren. Ich habe meine Großmutter über alles ausgefragt.

Welche Erinnerungen haben Sie noch an Ihre Kindheit, die mit Ihrer Großmutter verbunden ist?

Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter und ich im Alter von 9-10 Jahren Brot gebacken haben: Wir sind nachts aufgestanden und haben den Teig geschlagen und um 5 Uhr morgens haben wir gemeinsam angefangen zu backen.

Alles im Menschen wird in der Kindheit festgelegt, und so auch meine Liebe zur nationalen Küche.

Und jetzt haben Sie beschlossen, Videos über die Küche der Russlanddeutschen zu drehen, die auf Ihren Kindheitserinnerungen basieren?

In meiner Familie habe ich immer nach den Rezepten meiner Großmutter gekocht. Als ich im Alter von 20 Jahren heiratete, fing ich sofort damit an. Als Soldatin bin ich schon im Alter von 45 Jahren in den Ruhestand getreten. Ich beschloss, mich mit etwas Kreativem zu befassen und meine Familienrezepte für meine Kinder aufzubewahren. Meine Töchter kochen einige deutsche Gerichte, aber sie kennen viele der Rezepte noch nicht. Eines Tages beschloss ich, im Internet nach einigen Rezepten zu suchen, aber die Suche war erfolglos. So entstand mein Buch über die Küche der Russlanddeutschen „Wkus daljokoj stariny“ (dt.: „Geschmack der fernen Vergangenheit“). Zusammen mit meiner jüngsten Tochter Lena haben wir dann beschlossen, Videos mit Rezepten aus dem Buch zu drehen und den Prozess der Zubereitung der Gerichte zu zeigen. Jetzt bin ich mir von Herzen dankbar für diese Arbeit, weil es mir gelungen ist, das Wissen unserer Großmütter zu bewahren.

Haben Sie dieses Projekt schon beendet?

Wir haben 25 Videos mit meiner jüngsten Tochter Lena gedreht. Damals lebte sie noch in dem Gebiet Perm. Sie besuchte uns und wir haben mit ihr gefilmt. Ich habe im Januar begonnen, die Videos auf meinem YouTube-Kanal und meiner VK-Seite zu veröffentlichen. Das letzte Video wird bald veröffentlicht. Meine Tochter Lena Kapuzin ist jetzt nach Sankt Petersburg gezogen und arbeitet als bekannte kreative Fotografin. Sie arbeitet viel und wir haben noch keine weiteren kulinarischen Videos gedreht. Vielleicht lerne ich es ja, alles selbst zu filmen und zu bearbeiten. Dann mache ich vielleicht weiter.

Kochen Ihre Töchter nach Familienrezepten?

Aber sicher. Meine älteste Tochter kann Apfelknödel, Kissel mit Rosinen und feine Nudeln machen. Strudel fallen ihr ein bisschen schwerer. Bei mir klappen sie auch nicht immer: Manchmal vergesse ich, das Loch im Deckel zu verschließen oder die Ränder mit Teig zu versiegeln und dann fallen sie auseinander. Meine jüngste Tochter kocht auch, aber sie hat nicht immer Zeit dafür.

Sie sind mir sehr dankbar, dass es ein Buch und Videos mit Familienrezepten gibt. Meine Töchter können sich diese Videos immer wieder anschauen.

Irina, normalerweise bringen Mütter und Großmütter ihren Töchtern und Enkelinnen das Stricken, Nähen oder Sticken bei. Wurde Ihnen als Kind auch so etwas beigebracht?

Meine Großmutter hat mir beigebracht, wie man strickt. Als ich etwa 10-11 Jahre alt war, zeigte sie mir, wie man die Maschen macht und wie man strickt. Ich erinnere mich, dass sie oft dasaß und Socken und Handschuhe strickte, und ich fragte sie immer wieder: „Oma, ich möchte auch stricken! Oma, ich möchte auch stricken! Warum geben sie mir nicht die Stricknadeln?“ Sie sagte, ich würde die Maschen verlieren und sie müsste wieder von vorne stricken. Aber ich habe trotzdem gestrickt. Natürlich habe ich auch mal ein paar Maschen verloren, und meine Großmutter hat dann noch mal stricken müssen.

In meiner Kindheit sprach sie mit mir auf Deutsch. Als ich meine ersten Socken für meine Nichte strickte, lobte mich meine Großmutter.

In der Schule wurde uns auch das Stricken beigebracht. Ich erinnere mich an meinen ersten gestrickten Schal mit 20 Maschen, der ganz schief war wie eine Tschurtschchela mit Erdnüssen. Aber in der Schule habe ich gelernt zu stricken. Ich habe viel gestrickt: für meinen Mann, für mich und für meine Töchter.

Machen Sie heute noch irgendwelche Handarbeiten?

Ich bin gerade dabei, neue Techniken auszuprobieren. Eine neue Phase der Kreativität begann mit der Hochzeit meiner Tochter.

Ich beschloss, an ihrem Hochzeitstag alles zu schmücken und fertigte einen Bogen mit Rosen aus Satinbändern, Dekorationen für die Gläser und den Saal sowie ein Kissen für die Eheringe an.

Ich schaue mir verschiedene Workshops im Internet an und experimentiere dann mit neuen Techniken, Materialien und Werkstoffen. Ich nähe Kostüme und mache Haarschmuck. Kurz vor Heiligabend mache ich festliche Kränze und verschenke sie an Familie und Freunde. Letztes Jahr habe ich auch einen festlichen Kranz, Hühner und Eierkörbe für Ostern gebastelt. Zu Feiertagen möchte man immer etwas Eigenes basteln.

Im Jahr 2021 gewannen Sie den Wettbewerb „Russlanddeutsche in der Avantgarde der Zukunft“ und veröffentlichten das Buch „Kuda dewatsja?“ (dt.: „Was soll man machen?“). Erzählen Sie etwas über diese dokumentarische Geschichte.

Die Hauptfigur des Buches ist meine Schwiegermutter Olga Boranowa. Wir lebten lange Zeit zusammen, sie erzählte mir viel aus ihrem Leben, und ich hörte ihr zunächst zu und begann dann, sie auf Video aufzunehmen. Dann habe ich fast vier Jahre lang die Geschichte ihres Lebens geschrieben. Das Buch ist in der Art einer dokumentarischen Prosa geschrieben. Es war mir ein großes Anliegen, die dokumentarischen Aufzeichnungen eines gewöhnlichen Menschen zu bewahren, der die harten Ereignisse der 1930er- bis 1950er-Jahre durchlebte und um die Entwicklung eines Kindes, eines Teenagers, eines jungen Mädchens in dieser unruhigen Zeit zu dokumentieren.

Ich wollte das Leben der einfachen Werkarbeiterinnen zeigen, das harte Schicksal derer, die all die Entbehrungen des Aufbaus einer neuen Macht, des Krieges, der Besatzung und des Wiederaufbaus der Volkswirtschaft nach dem Krieg ertragen mussten.

In diesem Buch habe ich mehr als 130 Liedchen gesammelt, an die sich Olga Boranowa erinnert. Darunter sind sowohl volkstümliche als auch selbst komponierte Stücke.

Als das Buch am Freitagabend, dem 8. Oktober, fertig war, erhielt ich einen Anruf vom Verleger, der mir mitteilte, dass ich die gesamte Auflage am Montag abholen könne. Am selben Tag gegen Mitternacht starb Olga Boranowa, ohne das Buch gesehen zu haben.

Sie hatte das Buch in seiner ursprünglichen Form auf A4-Blättern gelesen und seine Veröffentlichung gebilligt. Ich erinnere mich, dass sie sagte: „Alles ist richtig, Ira. Alles ist richtig.“

Jetzt schicke ich die Bücher an unsere Verwandten. Sie danken mir, dass ich die Geschichte der Ältesten unserer Familie bewahrt habe.

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

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