Wie kann man durch Familiengeschichte und Aussehen Rückhalt und Identität finden? Was sind ethnische Trends in der Mode und wie kann ein modernes, stilvolles Outfit mit Elementen der Tradition geschaffen werden? Das erfahren die Teilnehmenden des Diskussionsklubs „Avantgarde“ in Barnaul, wo Olga Bondarenko (Zitzer), eine Stylistin und Genealogin, auftreten wird.
Olga ist in der Gemeinschaft der Russlanddeutschen für ihre Projekte bekannt, insbesondere für ihre Workshops in Ahnenforschung. Sie kennt die Geschichte ihrer Familie bis zu den ersten deutschen Siedlern und sogar noch weiter zurück. Neben der Ahnenforschung hat sich Olga schon immer für Stil interessiert und jetzt arbeitet sie als Stylistin und hilft Frauen, sich durch Kleidung auszudrücken.
Im Diskussionsklub der Russlanddeutschen „Avantgarde“ wird die Expertin verraten, wie Elemente der russlanddeutschen Tracht geschmackvoll in einen modernen Kleiderschrank eingebracht werden können. Diese Tipps teilen wir auch mit unseren Lesern.
Olga, erzählen Sie uns bitte, was die Teilnehmenden des Vortrags erwartet.
Vor einem Jahr war ich zu einer Abschlussausstellung junger Designer eingeladen und einige der Kollektionen trugen Details der russischen Tracht. Da habe ich gedacht, dass ich gerne ein Projekt in den russlanddeutschen Organisationen machen würde, damit die Frauen die Interpretation der russlanddeutschen Tracht in ihrem Kleiderschrank zeigen können.
Das ist definitiv eine Herausforderung für mich! Es ist mir wichtig, nicht alles in ein Kostümfest zu verwandeln. Ich will es stilvoll, schön und der Zeit angemessen machen. Das ist ein weites Feld für Fantasie und historische Analyse! Ich bin vollkommen in diesen Prozess vertieft. Wenn ich einkaufen gehe, sehe ich oft Dinge, die in die Outfits integriert werden können.
Man muss also nicht extra etwas sticken oder Stoff nach einem bestimmten traditionellen Stil schneidern, sondern man kann Kleidung im Laden finden und sie geschickt kombinieren?
Ja, das ist doch Stilistik und Kreativität. Es sollte ja nicht direkt ins Auge fallen und danach schreien, dass man eine Tracht trägt. Das ist eine recht subtile Sache.
Großartig! Also warten wir nicht nur auf einen historischen Ausflug in die Tradition der Tracht, sondern auch darauf, wie man sie im Schaufenster erkennt, oder?
Ja. Außerdem möchte ich einen großen Schwerpunkt auf die Gegenwart legen. Es gibt eine Menge Webinare und Literatur über die Geschichte des Kostüms. Aber wie erkennt man es in der modernen Welt und wie passt man es an? Dazu gibt es nun mal keine Literatur.
Selbstverständlich beziehe ich mich auf die Geschichte. Wenn es um die Tracht geht, stütze ich mich auf die Forschungen von Elena Arndt (Anm. d. Red.: „Nazionalny kostjum nemzev Powolschja (konez XVIII - natschalo XX weka)“) (dt.: Nationale Tracht der Wolgadeutschen (Ende 18. bis Anfang 20. Jahrhundert). Auch ich lese dieses Buch, denn es hat Abbildungen mit Kleidern aus dem Museum, zum Beispiel die gelbe Bluse „prasna“. Das ist eine gerade geschnittene Bluse, die kaum bis zur Taille reicht. Ich nehme diese Bluse und zeige, wie mit ihr ein modernes Outfit kreiert werden kann.
Wunderbar! Genau wie wir es mögen: Traditionen im 21. Jahrhundert relevant machen! Olga, können Sie den Lesern von RusDeutsch, die nicht zum Diskussionsklub „Avantgarde“ nach Barnaul kommen, aber das Interview lesen und sich für dieses Thema interessieren, einige Ratschläge geben?
Der erste Ratschlag ist, nicht-klassische Kleidung zu verwenden. Wenn wir etwas Ethnisches nehmen, zum Beispiel die Bluse „prasna“, sollten wir keine klassischen Sachen dazu tragen wie zum Beispiel Bügelfaltenhosen, einen Bleistiftrock oder irgendwelche strengen Formen. Sonst verschwindet der ethnische Stil sofort! Der Pullover hat viele Details und um die festliche Bluse abzuschwächen, kann man sie mit Denim kombinieren. Heute ist Denim in nicht reinen Farben modern.
Der zweite Tipp ist, dass nichts das Outfit so sehr ruiniert wie unpassende Schuhe. Und der dritte Tipp ist, dass man den Trends folgen soll, die während mehrerer Saisons aktuell sind wie beispielsweise nicht klassische Jeans, sondern ausgefranste.
Olga, wie lange arbeiten Sie schon als Beraterin im Bereich Mode und Marken?
Der Stil ist ein Bereich, der mich schon immer interessiert hat. Ich habe mich selbst in diesem Bereich entwickelt, sogar während ich Ahnenforschung betrieben habe. Seit mittlerweile zwei Jahren arbeite ich als Stylistin.
Dabei geht es ja auch um Identität, wissen Sie? Beim Stil geht es um Identität, genau wie bei der Ahnenforschung. Man kann herausfinden, wer man selbst ist und mithilfe dessen sein wahres Ich durch den eigenen Stil ausstrahlen.
Sie beteiligen sich aktiv an den Tätigkeiten der russlanddeutschen Organisationen. Sie sind auf offenen Treffen aufgetreten und haben an vielen anderen Projekten teilgenommen. Was bedeuten diese Tätigkeiten für Sie?
Das ist mein kleiner Beitrag für die gemeinsame Sache und für den Fortbestand unseres Volkes. Schließlich gibt es, wie die Volkszählung zeigt, immer weniger Menschen, die sich als Russlanddeutsche bezeichnen.
Wir können die Russlanddeutschen mit verschiedenen Themen ansprechen. Jemand wird sich durch den Stil angesprochen fühlen und jemand durch die Ahnenforschung oder auch durch etwas anderes. Und die Person wird sehen, so wie ich einst, dass man sich hier entwickeln kann und auch Freunde und Gleichgesinnte findet. Hier kann man sich selbst verwirklichen.
Ich bin in alle genealogischen Projekte eingebunden, damit Russlanddeutsche ihre Herkunft und den ersten Siedler – den Menschen, der als erster ins Russische Reich kam – kennenlernen und in Deutschland weiter forschen können. Das ist äußerst wichtig. Dies gibt mir auch persönlich sehr viel Rückhalt. Ich arbeite sehr gerne mit Menschen zusammen, die die gleichen Wurzeln wie ich haben, denn so lerne ich noch mehr über die Geschichte der Russlanddeutschen.
Olga, bitte erzählen Sie uns etwas über Ihre Familie und Ihre deutschen Wurzeln.
Ich kenne meine Genealogie auf einem Zweig bis ins Jahr 1600. Und je weiter ich zurückgehe, desto mehr Vorfahren und Nachnamen finde ich. Mir ist bekannt, dass der erste Vorfahre Heinrich Zitzer und seine Frau Elisabet Ljajm im Jahr 1766 aus der kleinen Stadt Usingen kamen und sich in der Wolgaregion, in Katharinenstadt, der heutigen Stadt Marx, niederließen. Ihre Nachkommen lebten dort bis zum Jahr 1941, woraufhin sie nach Sibirien deportiert wurden. Mein Urgroßvater wurde zur Arbeitsarmee geschickt.
Ich habe mir die Personalakten der Deportierten im Innenministerium besorgt und habe Fotos daraus genommen. So kann man auch vorgehen. Ich erinnere mich an meinen Urgroßvater. Als er verstarb, war ich neun Jahre alt. Meine Urgroßmutter jedoch ist lange vor meiner Geburt gestorben und ihr Foto fand ich in der Personalakte.
Wissen Sie, was die interessanteste Entdeckung in meinem genealogischen Abenteuer war? Als ich bereits in Deutschland forschte, stellte sich heraus, dass es in der Stadt Usingen eine Gasse gibt, die den Nachnamen Zitzer trägt. Und als mein Vorfahre Nickel Johann Zitzer starb, wurde Folgendes in das Kirchbuch geschrieben: „Kleiner, aber im Mut alter und großer Zitzer, von dem der Name der Zitzergasse abgeleitet wurde“.
Er starb im Jahr 1744 und es stellt sich heraus, dass es seit fast 300 Jahren eine Gasse in der Stadt gibt, die nach meinem Vorfahren benannt ist. Ich erhielt ein Bild von dort mit einem Straßenschild der Zitzergasse. Und mein großer Traum (Olga faltet die Hände vor ihrem Herzen) ist es, in diese kleine Stadt zu fahren und diese Straße entlangzugehen...
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge