Die Harvardt-Familie: Eine herzliche Geschichte über das Gefühl von Heimat

In diesem Artikel wird die herzliche Geschichte einer russlanddeutschen Familie aus dem Russischen Norden, genauer gesagt aus der kleinen Stadt Kotlas in dem Gebiet Archangelsk, beschrieben.

Lernen Sie die Mitglieder der Familie Harvardt kennen: Andrej, ein Universitätsdozent für Geisteswissenschaften und Touristiker mit fast 50 Jahren Erfahrung; seine Frau Anna, eine ausgebildete Chemietechnikerin; sowie ihre Töchter Jewgenija und Maria, auch bekannt als „Professorentöchter“. Maria engagiert sich als Aktivistin im Jugendring der Russlanddeutschen (JdR).

Unser Gespräch vereinte drei Punkte auf der Landkarte: Andrej in Kotlas, Maria in Sankt Petersburg und unsere Autorin Elena in einem Dorf bei Tomsk. In einem Satz zusammengefasst, drehte sich unser Gespräch um das Gefühl von Familie und Heimat. Dieses Gefühl von „Ich bin zu Hause“ erstreckt sich über vier Personen und eine Wohnung hinaus. Es reicht über die Schwelle des Hauses hinaus, vom Hof in die gesamte Heimatstadt, weiter zu anderen Städten, die mit wichtigen Ereignissen aus der Kindheit und fröhlichen Erinnerungen verbunden sind. Die heimelige Atmosphäre kann selbst am wilden Ufer des nördlichen Flusses oder während eines Waldspaziergangs gespürt werden, denn das Gefühl von Geborgenheit liegt in einem selbst, in den Verwandten, Freunden und Lehrern.

Die Harvardt-Familie lebt in einem solchen „Zuhause“. Hier tauschen sie sich bei einer Tasse Tee über Sokrates aus, legen großen Wert auf Bildung, unternehmen gemeinsam Rafting-Ausflüge und gehen wandern. Sie kennen ihre Familiengeschichte und lieben einander von Herzen.

Ich möchte das Gespräch mit einer allgemeinen Frage beginnen. Wie kann die Familie Harvardt am besten beschrieben werden?

Andrej:

Es ist keine einfache Familie, um es vorsichtig auszudrücken.

Maria:

Ich möchte betonen, dass sie eine freundliche Familie ist und nicht nur die Harvardts einschließt.

Andrej:

Wir haben Wurzeln der Familie Gecht und das bedeutet uns sehr viel.

Maria:

Ja, in unserer kleinen Familie sind wir zu viert: mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich. Doch für uns bedeutet das Wort „Familie“ einen weitreichenden Stammbaum sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits.

In vergangenen Zeiten war es wohl ein verbreiteter sozialer Charakterzug, der von Kollektivität, Zusammengehörigkeit und Offenheit geprägt war. Doch nicht alle haben diese Werte bis ins Jahr 2024 bewahrt. Viele von uns leben heute getrennt voneinander, selbst innerhalb der Familie besteht nicht immer eine enge Bindung. Was hat Ihrer Familie geholfen, dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit zu bewahren und weiterzugeben?

Andrej:

Neben den familiären und nachbarschaftlichen Bindungen existierte ein Netzwerk sozialer Beziehungen durch öffentliche Organisationen. Wir erlebten den Komsomol, in dem meine Frau und ich uns geistig näher kamen, obwohl wir uns bereits seit unserer Kindheit kannten und nebeneinander lebten.

Es ist ein kleines Dorf. Unsere Väter, also Marias Großväter, kannten sich von der Arbeit her. Das Werk dient der Flotte. Einer von ihnen war Konstrukteur in der Werft, während der andere als Schiffsmechaniker tätig war. Die Flussschule, an der der Mechaniker 20 Jahre lang arbeitete, befand sich ganz in der Nähe. Es ist wie ein Mikrokosmos im Inneren. Das Dorf befindet sich auf einer Insel.

Wir leben schon lange nicht mehr in Limenda, aber es fühlt sich dort immer noch so an, als wäre es mein Zuhause. Ich habe zwei solcher Orte auf der Welt: Sankt Petersburg und Limenda.

Haben Sie auch in Sankt Petersburg studiert?

Andrej:

Nicht nur studiert. Der Bruder meiner Mutter lebte in Sankt Petersburg. Er war der Jüngste in der Familie und er wurde von allen geliebt. Diese Liebe erwiderte er bis zu seinen letzten Tagen. Sobald ich anfing zu laufen, besuchten meine Mutter und ich meinen Onkel. Er war ein wundervoller Mann!

Die Eindrücke aus meiner Kindheit, als ich mit drei Jahren nach Sankt Petersburg reiste und so viel erlebte, sind bis heute unvergesslich. Auch wenn sich die Stadt im Laufe der Zeit verändert hat, spüre ich jedes Mal, wenn ich dort bin, nach nur zwei Stunden den vertrauten Hauch von Zuhause.

Maria:

Mir geht es genauso mit Kotlas und Sankt Petersburg. Besonders im letzten Jahr, als ich beruflich und privat viel gereist bin, ist mir diese Verbundenheit bewusst geworden.

Wenn das Flugzeug auf der Startbahn in Pulkowo (Anm. d. Red.: Flughafen von Sankt Petersburg) landet, fühlt es sich an, als ob alles in Ordnung ist.

Genauso ist es, wenn ich nach Hause fahre: Das Geräusch der Räder über die Eisenbahnbrücke, die während des Krieges gebaut wurde, und der Anblick der Stadt am Ufer vermitteln mir das Gefühl, dass alles an seinem Platz ist und in Ordnung ist.

Großartig! Das Gefühl von Heimat erstreckt sich also über geografische Grenzen hinweg.

Andrej:

Es gibt eine weitere Verbindung zur Geografie. Seit 1976 arbeite ich im Tourismus, heute auch bekannt als beispielsweise extremer oder sportlicher Tourismus. Für uns war es einfach nur Tourismus: ein Rucksack auf dem Rücken und vorwärts. Boote, Skier, zu Fuß, in den Bergen oder in der Tundra waren nur verschiedene Facetten davon.

Das zentrale Element im Tourismus ist die „Tourismus und Haushalt“-Komponente, also die Fähigkeit, die Umgebung zu domestizieren, in der man sich befindet. Egal wohin man geht: Wenn man zwei Stunden lang an einem Stein verweilt, wird dieser Stein zu deinem Zuhause. Jeder Busch und jeder Baum werden zu deinem Zuhause. Wenn du dieses Gefühl nicht hast, wirst du nicht im Tourismus bleiben können; es wird zu stressig sein. Du musst Komfort mitbringen und ihn um dich herum ausbreiten.

Dies gilt auch für die Familie. Wenn wir uns über alltägliche Dinge wie was, wo, warum und wie viel aufregen, haben wir keine Zeit für die Familie. Diese Dinge lösen sich von selbst, und wir müssen uns auf das Wesentliche konzentrieren.

Maria:

In einer Familie, in der viel Freizeit herrscht, finden die Kinder automatisch ihren Platz. Mein erster Gedanke zum Thema Tourismus ist, dass wir uns auf einem Schlauchboot namens „Kontrabass“ befinden. Diesen Namen habe ich gewählt, als ich gerade dabei war, den Buchstaben „R“ auszusprechen.

Andrej:

Gemeinsam sind wir zu viert den Fluss hinuntergefahren.

Maria, wie alt warst Du bei Deiner ersten Rafting-Tour?

Maria:

Nach dem Foto zu urteilen, ungefähr fünf Jahre alt.

Andrej:

Ja, denn dir hat schon eine kleine Kinderschwimmweste gepasst. Sie war aufblasbar und hatte eine gute Auftriebskraft. Doch Maria wiederholte immer wieder: „Wir werden ertrinken, wir werden ertrinken“.

Wir haben uns im Flussdelta verirrt: Wir fuhren in den falschen Seitenarm, umgingen die Sperre, stiegen wieder ins Wasser und gerieten in den falschen Fluss.

Maria blickte auf das weite Wasser und sagte: „Das war's, jetzt werden wir ertrinken, und Oma wird uns nicht nass ins Haus lassen“.

Aber es ist nichts passiert. Wir schafften es, die Insel zu überqueren und kehrten zum richtigen Fluss zurück. Oma war natürlich müde vom Warten, aber sie ging nicht weg und wartete auf uns.

Es bereitet mir große Freude, ihnen zuzuhören und zu verstehen, Maria, von wem Du diese Eigenschaft geerbt hast! Könntest Du mir bitte erzählen, welche Eigenschaften Du von Deinen Verwandten geerbt hast?

Maria:

Das ist eine interessante Frage. Im Großen und Ganzen sind meine Mutter und mein Vater völlig unterschiedlich, aber es ist schwierig, bestimmte Charaktereigenschaften voneinander zu trennen. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass wir eine ähnliche Lebenseinstellung und einen vergleichbaren Sinn für Humor teilen, das verbindet uns auf besondere Weise.

Zudem gibt es viele äußere Ähnlichkeiten zwischen uns: in unserer Mimik und unserem Verhalten. Mit meiner Mutter teile ich sogar eine ähnliche Stimme, sodass wir am Telefon oft verwechselt werden.

Andrej:

Und die Gestik ist von Papa.

Maria:

Wirklich?

Andrej:

Ja, in meiner Arbeitsumgebung kennt jeder Maria und wen ich zur Arbeit fahre, sagen meine Kollegen zu mir: „Du redest wie Maria“. Im Ernst, ihr verwechselst da nichts? Eigentlich redet Maria wie ich.

Maria:

Oh, ganz allgemein gesprochen, wollte ich auf keinen Fall in die Fußstapfen meines Vaters in der Wissenschaft treten. Mein Papa ist Kandidat der philosophischen Wissenschaften. Zuerst dachte ich daran, Journalismus zu studieren, dann Geschichte.

Etwa ein Jahr bevor ich mit dem Studium begann, fing mein Vater wieder an, über Sokrates zu sprechen, und kam nicht mehr zum Ende. Meine Freundin und ich stellten ihm eine Frage, und erst haben wir uns hingesetzt, dann haben wir uns hingelegt, dann haben wir uns einen Tee geholt – das konnte lange dauern.

Und... wie es kommen musste, landete ich schließlich an der Fakultät für Philosophie!

Diese Entscheidung führte zu einer weiteren Entwicklung in unserer Beziehung: Auch Papa begann zu studieren.

Andrej:

Ich habe ja nicht philosophische Ethik studiert, sondern Sozialphilosophie. Das ist zwar ähnlich, aber nicht ganz dasselbe. Ich war neugierig darauf, die Philosophie auch von dieser Perspektive aus zu betrachten. Und ich begann wirklich zu studieren, was immer eine großartige Erfahrung ist – eine Art von Reinkarnation.

Maria:

Ich habe sehr reflektierte Eltern. Wenn ich über verschiedene Lebensabschnitte nachdenke, diskutiere ich sie gerne mit meiner Mutter oder meinem Vater. Mit zunehmendem Alter fällt es mir immer leichter, allgemeine Fragen zu stellen, und das macht mich glücklich.

Ich kann einfach meinen Vater anrufen und ein paar dumme sowie ein paar kluge Fragen stellen. Natürlich gibt es Google, aber Papa ist einfach besser.

Andrej:

Es ist interessant, wie Fragen entstehen, auf die man selbst nicht gekommen wäre. Die Frage, die man stellt, ist bereits die Hälfte eines vollständigen Gedankens. Diese Fragen werfen Aufgaben auf, an denen das Gehirn zu arbeiten beginnt.

Ich möchte noch auf das Thema der deutschen Wurzeln eingehen. Maria, Du hast uns bereits von deinem Urgroßvater Edmund Gecht erzählt. Könnten sie uns bitte mehr über die deutschen Wurzeln und die Geschichte ihrer Vorfahren erzählen?

Andrej:

Unsere Vorfahren, Deutsche, lebten in Kleinrussland und in Saporischschja.

Unsere entfernten Vorfahren wagten in den Jahren 1804-1806 den Schritt der Auswanderung aus Schwaben. Sie ließen sich in dem Gebiet nieder, der sich für die Viehzucht eignete. Mein Urgroßvater mütterlicherseits war ein wohlhabender Viehzüchter mit 15 Kindern, doch während des Krieges verloren sie ihren Besitz.

Großvater Edmund Gecht arbeitete als Chauffeur in der Maschinen-Traktoren-Station. Dann brach der Krieg aus und die Familie wurde auseinandergerissen. Im Jahr 1941 wurde mein Großvater zur Zwangsarbeit in Baukolonnen mobilisiert, während seine Frau und Kinder ins von Deutschland besetzte Polen deportiert wurden. Meine Großmutter verstarb dort an Typhus.

Nach dem Krieg gelang es schließlich, die Familie im Norden Russlands, im Gebiet Archangelsk, wieder zu vereinen.

Maria:

Daraus ergab sich, dass Mitglieder beider Familienzweige zu Bauarbeitern wurden und maßgeblich an der Errichtung vieler Gebäude in Kotlas beteiligt waren.

Andrej:

Ja, in vergangenen Zeiten wurde viel gebaut, als das Land nach dem Krieg wieder aufgebaut werden musste. Mein Großvater war damals als Meister auf den Baustellen tätig und genoss großes Ansehen in der Bauverwaltung.

Heute spaziere ich gelegentlich durch die Straßen der Stadt und denke: „Mein Großvater hat das Gebäude gebaut, in dem ihr jetzt wohnt. Und auch diese Schule wurde von meinem Großvater und meinem Onkel erbaut“.

Maria:

Und meine Großmutter hat die Wände in diesem Haus gestrichen.

Andrej:

Ja, Großmutter hat eine lange Zeit als Malerin und Stuckateurin auf Baustellen gearbeitet.

Für mich verkörpern die Russlanddeutschen vor allem Menschen, die sich durch ihre beständige und vernünftige Arbeit auszeichnen. Einmal wurde ich gefragt, wie sich mein Deutschtum zeigt, und für mich zeigt es sich in der Einstellung zur Arbeit. Wir sind es gewohnt, die Dinge gründlich zu erledigen.

Mein Großvater Edmund pflegte zu sagen: „Zu gut ist auch nicht gut“. Es ist wichtig, das Ergebnis auf einen guten Stand zu bringen, auf den optimalen Grad der Perfektion hinzuarbeiten.

Doch wenn man versucht, es bis zur Perfektion zu treiben, wird es nur Unsinn sein. Denn die Kosten für das letzte Prozent Perfektion werden enorm hoch sein, während der Nutzen minimal ist. Hier zeigt sich auch ein „deutscher“ Rationalismus.

Während unseres Gesprächs tauschen wir Gedanken über die Bedeutung von Heimat und Familie aus, darüber, dass diese Bedeutung sowohl im Kleinen als auch im Großen existiert. Hiermit bitte ich sie, eine Definition zu formulieren: Was bedeutet Familie für sie?

Andrej:

Es ist eine besondere Form des Daseins. Eine Familie zu gründen, bringt viel Arbeit mit sich. Nicht jeder versteht das. Vor Kurzem haben meine Frau und ich unser 35-jähriges Jubiläum gefeiert. Ich denke, wir können stolz darauf sein, denn nicht jeder kann das. Einige Paare leben sogar noch länger zusammen und ich wünsche ihnen Gesundheit und Glück.

Aristoteles hat nicht umsonst gesagt, dass der Staat mit der Familie beginnt. Ohne eine familiäre Institution fehlt die Grundlage für die Zukunft, denn alles andere entspringt letztendlich aus ihr.

Maria:

Für mich ist die Familie das Fundament. Als jemand in der Entwicklungsphase, 24 Jahre alt und mit einem abgeschlossenen Studium, bewege ich mich in eine bestimmte Richtung. Es überrascht mich zu sehen, dass nicht alle Menschen um mich herum das gleiche Verständnis für ihre Wurzeln haben oder eine enge Verbindung zu ihren Verwandten pflegen.

Für mich ist die Familie eine Stütze, die es mir ermöglicht, fest auf eigenen Beinen zu stehen. Wenn man erkennt, dass man Handlungsspielraum hat, wird man nie bei Null anfangen müssen – man hat immer etwas, worauf man aufbauen kann, um voranzukommen.

Ich möchte dieses Gespräch gemäß meiner Tradition abschließen, und zwar mit einem Wunsch an die Leserschaft. Was würden sie sich für unsere Leser wünschen?

Maria:

Aus unserem Gespräch kann ich sagen: Nachdenken, reflektieren und lernen.

Andrej:

Man sollte immer lernen. Denn wenn man aufhört zu lernen, hört auch das persönliche Wachstum auf. Suche aktiv nach Gelegenheiten zum Lernen, finde inspirierende Menschen und sei ihnen dankbar für ihr Wissen.

Maria:

Dieser Grundsatz scheint das Leitmotiv unserer Familie zu sein. Abschließend möchte ich noch einmal unsere bewundernswerte Mutter hervorheben. Mama hat einen besonderen Tonfall für den Satz: „Nun, geh und studiere!“.

Andrej:

Ein weiterer Satz, den Mama oft sagt und den auch Maria oft hört, lautet: „Für einen Menschen mit Intelligenz ist nichts unmöglich“.


Erfahren Sie mehr über Marias Urgroßvater in unserem Artikel zum Gedenk- und Trauertag der Russlanddeutschen, in dem junge Aktivisten der sozialen Bewegung von ihren Verwandten berichten, die Deportation und Arbeitsarmee überlebt haben.

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

Rubriken: Interview