Bei der letzten Volkszählung von 2010 wurden in Krasnojarsk, Russlands östlichster Millionenstadt, 22 363 ethnische Deutsche gezählt. Wie sind sie da wohl hingekommen?
„Ich glaube, dass wir mehr sind“, sagt Olga Kulschmanowa. Mehr, als die Statistik an Russlanddeutschen in Krasnojarsk ausweist. Kulschmanowa ist die Vorsitzende der regionalen National-Kulturellen Autonomie der Deutschen vor Ort und meint, dass die deutsche Abstammung sich nicht immer aus dem Namen erschließt oder sich die Betroffenen aus anderen Gründen ihrer Wurzeln oft nicht im Klaren sind. Zu Sowjetzeiten wurden den Deutschen gern mal Steine in den Weg gelegt, deshalb sprach man oft auch in der Familie nicht offen über die Nationalität, so dass das Bewusstsein dafür bei vielen verloren ging.
Aber man muss oft nur ein wenig nachfragen, und schon tauchen in der vorigen oder vorvorigen Generation Verwandte mit deutschen Namen auf. Bei Kulschmanowa selbst heißen sie But, bei Tatjana Iwljewa, der Direktorin des Siegesmuseums, Eckardt und Wiegel. Die Historikerin hat zur deutschen Geschichte von Krasnojarsk geforscht. Demnach kamen die meisten Russlanddeutschen nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in diese Gegend, vor allem von der Wolga, aber auch aus dem belagerten Leningrad. Moskau hatte das verfügt, weil die deutsche Minderheit verdächtigt wurde, eine potenzielle fünfte Kolonne für Hitler zu sein. Krasnojarsk war die östlichste Region, in die Deutsche zwangsumgesiedelt wurden, ein beliebter Verbannungsort bereits im Zarenreich. 75 000 Menschen kamen hier an. Viele von ihnen wurden später zur sogenannten Trudarmee abkommandiert und so ein zweites Mal deportiert, um in meist unwirtlichen Gegenden Zwangsarbeit zu verrichten.
Doch Deutsche gab es in Krasnojarsk und Umgebung auch vorher schon. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts waren im sogenannten Jenissej-Gouvernement genau 954. Die Agrarreformen von Regierungschef Pjotr Stolypin brachten einen weiteren Zuzug aus dem Westen des Landes mit sich. Der einzige Ort mit einem deutschen Namen – Gnadendorf – musste jedoch nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wegen der antideutschen Stimmung in Nikolajewka umbenannt werden. Ausgerechnet der deutschstämmige Gouverneur Iwan Kraft ordnete das an.
Der Erste Weltkrieg war für die deutsche Minderheit eine Katastrophe. Die „russische Heimat“ und das „deutsche Vaterland“, so sagte man, standen sich auf dem Schlachtfeld gegenüber. Bereits 1914 trafen in Krasnojarsk Kriegsgefangene ein, darunter auch 3000 Deutsche. Sie wurden in einer Garnison untergebracht. Noch heute erinnert ein Gedenkstein auf dem Troizkoje-Friedhof an diese Zeit. Einige der Gefangenen gründeten nach Kriegsende in Krasnojarsk sogar Familien, die meisten kehrten dann jedoch bald nach Hause zurück.
1989, als die Sowjetunion kurz vor dem Zusammenbruch stand, lebten in Krasnojarsk laut Volkszählung noch 54 254 Deutsche. 30 Jahre später sind es vor allem wegen der Abwanderung nach Deutschland weniger als halb so viele. Aber vielleicht täuscht die Statistik ja auch.
* Dieser Artikel erschien zuerst in der „Moskauer Deutschen Zeitung“