Geistesblitz auf der Insel: Eine ethnokulturelle Sommerschule für Russlanddeutsche auf Sylt

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwanden nach und nach deutsche Minderheitenschulen in Russland. Im Juli wurde auf der Nordseeinsel Sylt ein Modell erprobt, wie Russlanddeutsche wieder ihre Literatur, Geschichte und Kultur in ihrer Muttersprache erlernen können.

Wind fast wie in St. Petersburg, Sonne und der Duft der allgegenwärtigen Hagebutte. 30 Jugendliche aus Russland verbrachten diesen Juli zwei Wochen auf Sylt. Als Teilnehmer des ethnokulturellen Seminars kamen sie hierher, um sich intensiv mit der Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen zu befassen. Von morgens bis spät abends tauchen sie in die Tiefen der deutschen Sprache ein, in historischer wie kultureller Hinsicht. In den Pausen zwischen den Lektionen ist Zeit für allerlei Belustigung.

Die blonde Lena Schmidt sagt, dass sie in den letzten Wochen viele Menschen getroffen hat, die ihr nahestehen und mit denen sie viel Spaß hat, sie könne hier einfach sie selbst sein.„Außerdem habe ich hier bemerkt, dass wir nicht die letzten Deutschen in Russland sind, die noch Dialekt sprechen“, erzählt sie, „es gibt tatsächlich viele Leute wie uns.“ Lena kam aus dem Dorf Podsosnowo im Deutschen Nationalkreis Halbstadt in der Region Altai auf die Insel.

Die Sommerschule auf Sylt ist der Höhepunkt eines Programms, das der Unterstützung von Schulen mit deutschen Minderheiten dient. Bis in die 1990er Jahre waren Minderheitenschulen die Norm, dann verschwanden sie nach und nach. Aber die Idee ist so einfach und genial, dass es zu voreilig wäre, sie in Vergessenheit geraten zu lassen. Besonders weil man von den deutschen Minderheiten aus Dänemark, Rumänien und Ungarn sowie den Südtirolern lernen kann. Mit deren Erfahrungen vertraut, startete der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK) 2018 ein ähnliches, dreijähriges Testprojekt. An den Versuchen nahmen elf Bildungseinrichtungen teil. Deren Schüler trafen sich nun zum zweiten Mal, um mehr über sich selbst zu erfahren und die Geschichte der Russlanddeutschen und ihrer Familie zu erkunden.

Letztes Jahr in Sotschi, jetzt auf Sylt. Olga Martens, erste stellvertretende Vorsitzende des IVDK, spricht über das Ziel des Projekts: „In Ermangelung eigener deutscher Schulen müssen wir zumindest in einigen Schulen, in denen es eine kritische Masse russlanddeutscher Schüler gibt, eine ethnokulturelle Komponente bereitstellen.“ In den teilnehmenden Schulen sollen im Herbst Wahlfächer angeboten werden: Geschichte, Kunst, Literatur und Musik der Russlanddeutschen, und das ist erst der Anfang.

Doch werden die Lehrer unter den Bedingungen des russischen Schulsystems den Unterricht spannend gestalten? Es ist schwierig, über die formale Ebene hinaus das tiefere Wesen einer Sprache zu vermitteln, gerade im Kontext einer allgemeinbildenden Schule. Das russische Bildungssystem funktioniert oft so, dass die Kinder in die Schule kommen, als kämen sie für eine Spritze zum Arzt: kurz und schmerzlos.

Und es gibt noch andere Schwierigkeiten, zum Beispiel bei den Familien. Viele ziehen heute das Englische dem Deutschen vor.

Der Erfolg der Minderheitenschulen hängt also in hohem Maße von den Menschen vor Ort ab. Jede Schule sollte einen eigenen Ansatz für die Umsetzung der ethnokulturellen Komponente verfolgen. Ohne Seele und Einfallsreichtum wird das Konzept zwischen den anderen Wahlfächern untergehen. Für den Erfolg braucht es also bedeutende Anstrengungen.

Wie auch immer, das Projekt befindet sich derzeit in der Testphase. Es wird täglich fortentwickelt und aufgrund des Feedbacks der Lehrer und Schüler erhält es seinen Feinschliff. Aus diesem Feedback entstand zum Beispiel die Idee, die Verantwortung für den Lernprozess auf die Schüler zu übertragen. „Kinder müssen einen eigenen Antrieb haben. Und dann ist es unsere Aufgabe, ihnen nur dabei zu helfen, ihre Idee zu formulieren und ihnen zu sagen, was sie weiter damit machen können,“ erklärt Projektleiter Denis Tsykalov. Auf der Insel entwickeln und präsentieren sie bereits konkrete Ideen, die später zu Hause umgesetzt werden.

Nastja Miroschnitschenko aus dem Dorf Zwetnopolje im Deutschen Nationalkreis Asowo berichtet, sie fühle sich durch die vergangenen zwei Wochen nicht „deutscher“ als zuvor. Sie wurde in Russland geboren und wird immer dort bleiben. „In der Familie reden wir wenig über unsere deutschen Wurzeln“, teilt sie mit, „ich gehe davon aus, dass es eine tragische Situation gab, und für meinen Papa ist dies kein einfaches Thema. Aber jetzt bin ich bereit, Fragen zu stellen. Egal wie schwer es ist, ich muss es wissen.“

Der Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung Nr. 14 (501)/2019.

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