Im Rahmen des Formats „Kultur am Museum“ fand im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte die Vorstellung des neu entdeckten Romans von Gerhard Sawatzky namens „Wir selbst“ (1938/2020) statt. Der Gießener Germanist und Literaturprofessor Carsten Gansel stellte das neuentdeckte Werk vor und sprach auch über seine Recherche zu Gerhard Sawatzky und seine Zeit.
Zu Beginn begrüßte Edwin Warkentin, Kulturreferent des Museums für Russlanddeutsche Kulturgeschichte alle Anwesenden und betonte, wie sehr er sich freue, dass Veranstaltungen dieser Art nun wieder stattfinden dürften, trotz aller Einschränkungen. Danach setzte Warkentin das Thema des Abends, den Roman und seine Wiederentdeckung, in seinen entsprechenden Kontext. Er erwähnte vorab, dass er „ideologisch nicht unkritisch zu betrachten“ sei. Andererseits stelle er dennoch ein besonderer Beitrag für die russlanddeutsche Erinnerungskultur dar, indem er ein stückweit die Frage beantworte, was erinnerungswürdig in einer Kultur sei. Auch die Russlanddeutschen seien eine Gemeinschaft mit einer bestimmten Erinnerungskultur, die bis heute noch nicht bis zu Ende erforscht ist. Weiter erläuterte er, dass Erinnerungskultur auch Teil und Ergebnis eines kommunikativen Gedächtnisses sei. Bei den Russlanddeutschen sei dieses geprägt gewesen durch Schweigen, Vergessen und Ausradieren, insofern sei sie bisher nicht vollständig gewesen. Mithilfe des Romans könne sie zum Teil wiederhergestellt werden.
Im Anschluss kam Carsten Gansel, Professor für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität Gießen zu Wort. Er sprach darüber, wie sein Interesse für die Geschichte der Russlanddeutschen entstanden war und wie er durch eine persönliche Beziehung zum Besitzer des Manuskripts dazu kam, es neu herauszugeben. Gerhard Sawatzkys Roman „Wir selbst“ (1938), welches am 3. März 2020 seine Buchpremiere feierte, bezeichnete er in seinem Vortrag als „das zerstörte und verschollene Hauptwerk der russlanddeutschen Literatur“ und als zentralen „Bestandteil der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen“.
Auch bedauerte Gansel, dass dieser Teil der deutschen Geschichte kaum jemandem geläufig sei und zitierte dabei Eleonora Hummel im Gespräch (2006): „Ich habe immer wieder feststellen müssen, dass die Geschichte der Russlanddeutschen selbst in groben Zügen den wenigsten bekannt ist – das gilt sowohl für Menschen in der DDR, der BRD als auch in der damaligen Sowjetunion. Diese Aus- und Rückwanderung über einen Zeitraum von zwei Jahrhunderten wird allgemein hierzulande nicht als Teil deutscher Geschichte gesehen. Das ist bedauerlich, denn ich denke, es geht uns alle an.“ Insgesamt sei Carsten Gansel die Recherche zum Roman vorgekommen, wie das Öffnen der traditionellen russischen Matrjoschkas: unter jeder Schicht verberge sich eine neue.
Gerhard Sawatzky, der Verfasser des Romans selbst, lebte von 1901 bis 1944 und verstarb unter bis heute ungeklärten Umständen im Gulag, dem Straf- und Arbeitslager der damaligen Sowjetunion. Seinen Roman über die Etablierung des Sozialismus in der Wolgarepublik stellte er im Jahr 1938, mit 37 Jahren fertig, bevor er verhaftet und die bis dahin gedruckten Texte vernichtet wurden. Aufgrund seiner Gefangenschaft erlebte er die Auflösung der Wolgarepublik (1941) nicht mehr mit. Bei seinem Roman handelt es sich laut Gansel um einen Entwicklungsroman, der den Werdegang vieler unterschiedlicher, hauptsächlich junger Figuren auf dem Land und im Betrieb beschreibt.
Zusätzlich stellte Gansel weitere Romane und Erzählungen von bzw. über Russlanddeutsche vor, wie „Die Wolgadeutschen – zerstreut in alle Winde“ (2018) von Nina Paulsen, die ebenfalls am Roman „Wir selbst“ mitgearbeitet hat und „Das Schicksal eines Theaters“ (2017) von Rose Steinmark. Zum Abschluss gab er Raum für Fragen.
Quelle: Pressemitteilung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte