„Patriotische Pflicht“: Wie junge Aktivisten für Restaurierung des Kirchengebäudes in Mariental kämpfen


Sergej Gerstner, ein Jurist aus Saratow, setzt sich zusammen mit Gleichgesinnten für die Restaurierung des Kirchengebäudes in dem Dorf Sowetskoje (ehemalige Kolonie Mariental, in der Wolgadeutsche lebten) ein. Den ehrgeizigen Plänen zufolge soll in dem restaurierten Gebäude ein Kulturhaus und ein Museum zur Geschichte der Siedlung untergebracht werden. Wir haben mit Sergej über die Motivation der jungen Aktivisten, die Rolle der Wurzeln für den gegenwärtigen Menschen, Identitätsfragen und Pflichten gesprochen.

Mariental wurde im Jahr 1766 von deutschen Kolonisten an der Wolga, nur vier Jahre nach dem Manifest von Katharina der Großen über Rechte und Privilegien für ausländische Einwanderer, gegründet. Nach und nach wurde die Siedlung größer, es wurden Windmühlen, ein Krankenhaus, eine Schule und Geschäfte gebaut und die Einwohner waren aktiv in Handwerk und Handel tätig. Zunächst gab es in der Kolonie ein Gebetshaus, dann wurde eine Holzkirche gebaut. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde eine Kirche aus Stein gebaut, in der jedoch in kürzester Zeit für die ständig wachsende Anzahl der Gemeindemitglieder kein Platz mehr war. Im Jahr 1842 wurde schon die vierte Kirche aus Stein seit der Gründung von Mariental gebaut.

Fast 80 Jahre später, im Jahr 1921, lehnten sich die Einwohner von Mariental gegen den Bolschewismus auf. Bei der gewaltsamen Niederschlagung des Bauernaufstandes wurden Dutzende von Menschen erschossen. Anfang der 1930er-Jahre wurde das Kreuz vom Glockenturm abgerissen und die Glocken wurden fallen gelassen. Im Jahr 1941, als die ASSR der Wolgadeutschen aufgelöst wurde, wurden die Einwohner von Mariental zusammen mit anderen Deutschen deportiert und die Kirche wurde schließlich geschlossen. Die Siedlung wurde „Sowetskoje“ genannt und das Kirchengebäude wurde bis in die 1990er-Jahre als Kulturhaus genutzt. Und nach einem Großbrand Anfang der 2000er-Jahre wurde das Gebäude nie wieder genutzt. Die Ruinen der zerstörten Kirche sind jedoch nach wie vor die wichtigste Sehenswürdigkeit dieser Orte.

Vor einigen Jahren beschloss Sergej Gerstner, ein Jurist und Musiker aus Saratow, die Geschichte seiner Familie wiederherzustellen. Sie waren Wolgadeutsche, die zu den ersten Einwohnern von Mariental gehörten. Zusammen mit seiner Familie reiste Sergej in das Dorf Sowetskoje und war sehr erschüttert vom Anblick der großen Müllberge, die sich auf den Stufen der Kirche gebildet hatten, in der seine Vorfahren sowie ihre Freunde und Nachbarn einst getauft, getraut und ausgesegnet worden waren. Sergej beschloss, etwas zu tun.

Etwa zehn Personen, die in Mariental wohnen, Nachfahren von Deutschen sind und von Sergej inspiriert wurden, schlossen sich der Initiativgruppe an, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Kirchengebäude in Mariental zu restaurieren und dem einst majestätischen Bauwerk mit Säulen und Glockenturm „ein zweites Leben“ einzuhauchen. Stepan Dmitrijew, ein Architekt aus Saratow, fertigte einen Entwurf für die grafische Rekonstruktion des Gebäudes an, das nach den Plänen das Kulturhaus des Dorfes Sowetskoje beherbergen soll.

Sergej, ein erfahrener Anwalt, konnte mithilfe der örtlichen Verwaltung erreichen, dass das Gebäude, das seltsamerweise nicht in den Registern aufgeführt war, als herrenloses Eigentum eingetragen wurde. Er hat nun den Beamten seine Dienste angeboten, um einen Antrag auf Eigentum an dem Gebäude durch die Dorfverwaltung vorzubereiten.

Um das Projekt zu finanzieren, starteten Sergej und seine Gleichgesinnten eine Kampagne auf der Crowdfunding-Plattform Boosty, damit alle Interessierten einen Beitrag in die Restauerierung der Kirche leisten könnten.

Wir sprachen mit Sergej über die Bedeutung, welche die Restaurierung der Kirche im Dorf Sowetskoje für ihn und andere Aktivisten hat, und über die Rolle, die das zukünftige Kulturhaus im Leben des Dorfes und der Region spielen könnte.

Sergej, Sie haben von der Kirche im Dorf Sowetskoje erfahren, als Sie die Geschichte Ihrer eigenen Familie erforschten. Erzählen Sie uns, warum Sie sich dazu entschlossen haben, sich damit zu beschäftigen und was Sie dabei herausgefunden haben.

Ich wusste schon von klein auf, dass ich eine Verbindung zu den Russlanddeutschen und insbesondere zu den Wolgadeutschen habe. Meine Mutter erzählte mir ständig davon, meine Großmutter jedoch nur wenig, denn sie leidet noch heute unter den tragischen Ereignissen im Jahr 1941. Sie wurde in Kasachstan geboren. Ihr Vater starb, als sie erst sechs Jahre alt war. Später heiratete ihre Mutter – meine Urgroßmutter – einen Mann mit russischer Herkunft und er adoptierte meine Großmutter. In ihren Dokumenten wurden sein Vatersname, sein Nachname und seine Staatsangehörigkeit eingetragen.

Dennoch hat meine Großmutter die Brücke zum kulturellen Erbe der Russlanddeutschen und zu ihrer Identität nicht zerstört. Sie sorgte dafür, dass meine Mutter ihre Deutschkenntnisse nicht nur auf Basisebene beherrschte und die Traditionen des Volkes kannte, sondern auch dafür, dass sie eine gute Ausbildung absolvierte und eine professionelle deutsche Philologin wurde, was letztlich die Verbindung zu ihrem Volk verstärkte, trotz aller politischen Prozesse, die in jenen Jahren in der Gesellschaft stattfanden.

Als ich jung war, war ich besessen von der Idee, Informationen über meine Verwandten und Beweise für meine Zugehörigkeit zum russlanddeutschen Volk zu finden. Aber meine Mutter und Großmutter hemmten meinen Eifer etwas, indem sie mir sagten, dass alle Dokumente vernichtet worden seien, da die Deutschen in der Sowjetzeit, gelinde gesagt, verpönt waren. Daher beschloss die Familie, keinen Anlass zu weiteren Schikanen zu geben, und versuchte einfach, das Leben eines „normalen“ Sowjetbürgers zu führen. Folglich hatte ich ihrer Meinung nach keine Chance auf Erfolg, und so habe ich die Nachforschung für etwa zehn Jahre aufs Eis gelegt.

Später, als ich mein Jurastudium abgeschlossen hatte und mich mit Gerichtsprozessen auskannte, auch mit solchen, bei denen es um die Anerkennung der Staatsangehörigkeit durch den Staat ging, ging ich vor Gericht, wo ich buchstäblich beweisen musste, dass meine Großmutter die Tochter ihres Vaters Jakob Gerstner war. Auf diese Weise konnte ich mich an das Innenministerium wenden und ich habe es geschafft, ihn als Person rehabilitieren zu lassen, die unter ethnischer Repression gelitten hatte.

Zeitgleich arbeiteten meine Mutter und ich – und sie war besonders fleißig – in den Archiven, was es schließlich ermöglichte, fast voll umfassende Informationen über die zahlreichen Angehörigen der Familie Gerstner, die in Mariental gelebt hatten, zu finden und den ersten Siedler Josef Gerstner ausfindig zu machen, der am 13. Juli 1766 in der Kolonie Herzog, dem heutigen Susly, sesshaft wurde.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Kirche zu restaurieren? Welche Bedeutung hat diese Restaurierungsarbeit für Sie persönlich?

Das ist alles ziemlich prosaisch. Als meine Familie und ich in dem Dorf Sowetskoje ankamen, dem „Hauptsitz“ vieler Generationen der Familie Gerstner, mussten wir feststellen, dass die Kirche, in der unsere Vorfahren getauft, getraut und ausgesegnet wurden, nicht nur in einem bedauernswerten Zustand war – wir haben es schon ahnen können und haben uns darauf vorbereitet, so etwas zu sehen –, sondern dass ihre Stufen auch als Müllhalde genutzt wurden, auf welche die örtliche Bevölkerung ihre Abfälle entsorgte. Ein Teil des Mülls lag noch in der Nähe der Kirche.

Es war, als ob in diesem Moment etwas in meinem Kopf ausgelöst wurde, und mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen darf. Die Mülltonnen stehen jetzt übrigens in einem angemessenen Abstand zum Gebäude, näher an der Straße, und das wird hoffentlich auch so bleiben.

Tatsächlich ist der Müll auf den Stufen der Kirche eine Art Vorwand für die Einleitung von Maßnahmen.

Vielmehr treibt mich eine gewisse „patriotische Pflicht“ dazu, der gesamten deutschen Bevölkerung von Mariental, die gewaltsam aus der Siedlung vertrieben wurde, ohne die Möglichkeit, dorthin zurückzukehren, angemessen zu gedenken.

Außerdem gibt es einen echten Bedarf für ein solches historisches und kulturelles Objekt im Dorf, denn es ist meiner Meinung nach kategorisch inakzeptabel, das brüchige Gebäude bei Wind und Wetter stehen zu lassen, wo es doch den Menschen dienen kann und soll.

Auch wenn es jetzt fast keine Deutschen mehr im Dorf gibt, sollte den Bewohnern trotzdem geholfen werden. Sie sollten die Möglichkeit bekommen, das Gebäude zu nutzen; damit es ein „zweites Leben“ erhält.

Dem Projekt zufolge soll die Kirche nicht als religiöses Gebäude, sondern als Kulturhaus wieder aufgebaut werden. Was war der Grund für diese Entscheidung?

Vor dem Brand vor etwa zwanzig Jahren wurde das Gebäude als Kulturhaus genutzt, sodass es ganz logisch ist, diese Idee weiterzuentwickeln und somit die historische Gerechtigkeit wiederherzustellen. Das Konzept der Nutzung des Gebäudes als religiöses Objekt ist nicht ganz überzeugend, da es unter den Bewohnern keine katholische Gemeinde gibt und dies auch nicht erwartet wird. Heute gibt es im Dorf Sowetskoje ein Kulturhaus, das in einem alten Schulgebäude untergebracht ist, das übrigens aus den Ziegeln der zu Sowjetzeiten abgerissenen Kirche in der Kolonie Herzog gebaut wurde. Heute zeigt das Kulturhaus verschiedene Ausstellungen, von denen eine der deutschen Bevölkerung gewidmet ist.

In einem Gespräch mit den Publizisten, die über Ihr Projekt berichteten, sagten Sie, dass es Pläne gibt, im restaurierten Kulturhaus ein Museum zu eröffnen. Was für ein Museum soll es werden?

Das Museum soll ein Schritt zur Weiterentwicklung, sprich der „Erweiterung“, der bestehenden Ausstellungen im Kulturhaus sein. Es ist auch geplant, einen Teil des Raums dem Gedenken an die Opfer der religiösen Verfolgung und des bolschewistischen Terrors der örtlichen Bevölkerung zu widmen. Im April 1921 fand in Mariental ein antibolschewistischer Aufstand statt, der zu einer Massenhinrichtung führte. Bei den Erschießungen wurden allein nach den offiziellen Angaben – mir liegen die Protokolle des Revolutionstribunals vor – mehr als 70 Personen aus der Bevölkerung hingerichtet, darunter auch der Pastor Nikolaus Kraft.

Diese Ereignisse müssen im Gedächtnis bleiben und der Öffentlichkeit deutlich vor Augen geführt werden, damit sich solche Tragödien nicht wiederholen.

All das gilt zu Recht auch für das Gedenken an die Deportation, jene schreckliche Ereignisse, die dazu führten, dass mehrere Hunderttausend Menschen schlagartig ihre Heimat verloren, deren Schicksale gebrochen wurden und die letztlich dem Volk der Russlanddeutschen irreparablen Schaden zufügten, das durch die Umstände weitgehend zerstört wurde, da viele Nachkommen ihre Identität, ihre Sprache und ihre Kultur verloren.

Es besteht auch die Möglichkeit, thematische Ausstellungen von Künstlern zu veranstalten, die mit dem Volk der Russlanddeutschen, der deutschen Wolgaregion usw. in Verbindung stehen. Es gibt bereits Interessenten, die bereit sind, ihre Kunstwerke auszustellen.

Alles in allem ist es ein interessantes Projekt, das für Touristen interessant wäre und das Geld einbringen, Arbeitsplätze schaffen und zur Entwicklung der Siedlung beitragen würde.

Meiner Meinung nach ist es auch wichtig, dass neben deutschen historischen Artefakten auch Objekte aus anderen Völkern, welche die Region historisch besiedelt haben, verwendet werden können.

Dies könnte ein Beispiel dafür sein, dass trotz aller Probleme in der Vergangenheit eine friedliche Koexistenz verschiedener Völker in der Gegenwart möglich ist.

Natürlich lässt sich ein so ehrgeiziges Projekt nicht im Alleingang verwirklichen. Die Behörden gründeten eine Initiativgruppe zur Wiederherstellung der Kirche und zur Kommunikation. Bitte erzählen Sie uns etwas über die anderen Aktivisten. Warum haben sie beschlossen, sich an der Arbeit zu beteiligen? Was war ihre Motivation?

Im Großen und Ganzen gibt es in Russland, Deutschland und Argentinien eine große Zahl von Menschen, die auf die eine oder andere Weise helfen. Es handelt sich sowohl um junge Menschen, die mit Ideen für die Veränderung der Welt um sie herum „brennen“, als auch um die ältere Generation, der die Bewahrung der historischen Erinnerung des Ortes und der Ereignisse am Herzen liegt.

Ich für meinen Teil kann vor allem die jungen Architekten besonders loben, die sich sehr aktiv für das Projekt einsetzen.

Stepan Dmitrijew befasst sich seit vielen Jahren mit der grafischen Rekonstruktion von Kirchen und führt nicht nur eine VK-Gruppe über verlassene Orte in Saratow und dessen Gebiet, sondern kümmert sich nun auch um einen Teil der Fragen rund um das Kirchengebäude im Dorf Lipowka, ehemals Scheffer, das wir ebenfalls restaurieren wollen.

Anton Bogner, der sich neben diesen Projekten auch für die Entwicklung des Tourismus in Saratow engagiert, entwickelt nun mit Gleichgesinnten das Projekt „Scholtaja linija“ (dt.: Gelbe Linie) und führt einen Blog über Urbanistik. Er ist eine große Hilfe bei der Vermessung des Gebäudes, das er und Stepan bereits buchstäblich bis auf die Ziegelsteine untersucht haben. Als Ergebnis dieser Messungen planen er und unser Freund Jakob Baum, der in Deutschland lebt, die Vorbereitung des Restaurierungsprojekts des Gebäudes.

Unser gemeinsamer Freund Anton Grib, der wie ich aktiv an seinen Wurzeln und der Geschichte seiner Familie interessiert ist, hilft uns ebenfalls, so gut er kann. Anton ist weder Historiker noch Architekt, er ist Geschäftsmann und Manager, aber sein Beitrag zur gemeinsamen Sache, seine Hilfe mit Ratschlägen und anderen Dingen spielt eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau der Kirche.

Darüber hinaus möchte ich auch den Beitrag meiner Mutter und meiner Großmutter würdigen, die mich in die richtige Richtung lenken und mich im Allgemeinen inspirieren und motivieren.

Die Vorsitzende des Dorfes Elena Djakonowa sowie die Dorfbewohnerinnen Irina Babina (Geringer) und Irina Schupikowa helfen bei der Lösung von Problemen „vor Ort“, liefern wertvolle Informationen und helfen auch bei der Lösung von Problemen auf jede erdenkliche Weise.

Ein paar Worte sollten auch über Frida Derho und Albert Obholz gesagt werden, die mir zu Beginn dieser Reise viele Informationen gaben und mir generell halfen, den richtigen Weg für die Entwicklung des Projekts zu finden.

Es gibt in der Tat viele Leute, die ich aufzählen könnte, und im Großen und Ganzen sind sie Teil der Initiativgruppe. Ich sollte Ihnen natürlich von allen erzählen, aber ich fürchte, das würde zu viel Zeit in Anspruch nehmen.

Der Hauptgrund für die Motivation all derer, die sich dafür einsetzen, ist meines Erachtens nicht nur der Wunsch, die Erinnerung an das Alte zu bewahren, sondern auch der Wunsch, unsere Region objektiv zu verändern, um die Touristenströme zu steigern, Geld zu gewinnen, den Lebensstandard zu erhöhen und zum Wohlstand des historischen und kulturellen Erbes beizutragen.

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

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