Regisseur des Films „Zeit“: „Die Geschichten der Menschen werden nicht als fremder Schmerz wahrgenommen“

Einer der Filme der diesjährigen „Filmwoche der Russlanddeutschen“ ist der Dokumentarfilm „Zeit“, eine Geschichte über die Deportation, die Arbeitsarmee, die Sondersiedlungen und das heutige Leben der Deutschen im Altai. Am 28. August fand die Filmpremiere in Barnaul statt und wurde bereits von Tausenden russischen Einwohnern gesehen. Außerdem wurde er ins Deutsche übersetzt. Wir haben uns mit dem Regisseur Maxim Goldberg getroffen und sprachen über die Entstehung des Films, seelisch starke Charaktere, Erziehung der jungen Generation und die komplexe Dokumentalistik.

RD: Maxim, wie kam die Idee, einen solchen Film zu drehen?

M. G.: Uns wurde vorgeschlagen, ein Dokumentarfilm zu drehen. Unser Kameramann Andrej Schapowalow kooperiert schon 20 Jahre mit dem Deutsch-Russischen Haus in Barnaul (heute: „Zentrum für kulturell-geschäftliche Zusammenarbeit Deutsche im Altai“). Unser Team besteht aus Andrej, Alexej Ljubar (unser Drehbuchautor) und mir, und wir arbeiten schon lange zusammen. So entstand dieses Projekt, welches wir mit Freude erarbeiteten. Uns gefällt die komplexe Dokumentalistik, die Argumentationen der Menschen und die Loslösung vom Ich-Erzähler. Der Film ist genau diesem Genre zuzuordnen.

RD: Das bedeutet, dass die Menschen im Vordergrund stehen, während das Bild den Hintergrund einnimmt?

M. G.: Richtig. Jedoch ist es technisch gesehen sehr schwierig, die Aufmerksamkeit des Zuschauers festzuhalten. Es ist etwas anderes, ein kleines Interview für ein paar Minuten zu drehen, als eine Person und ihre Geschichte für 30-40 Minuten im Bild zu haben. In diesem Zeitalter muss sich auf dem Bildschirm alles bewegen, damit der Zuschauer jede Sekunde aufs Neue überrascht wird. Das Bild eines Films im Kino muss sich schnell verändern und deshalb widersetzen sich die Regisseure selten diesem Trend. Natürlich war es ein riskantes Experiment für uns. Dem Zuschauer bleibt überlassen, wie gut es bei ihm ankommt.

RD: Haben Sie zu Beginn erst das Drehbuch erarbeitet oder erst die Hauptcharaktere gesucht?

M. G.: Ursprünglich hatten wir nur die Idee, die Geschichte durch das Prisma der Menschen zu erzählen. Nachdem ich vorher mehrere Dokumentarfilme über Russlanddeutsche gesehen und einige der Personen bereits gefilmt hatte, wurde mir klar, dass ich keine stupide Chronologie im Film haben möchte. Es ist eine Sünde unsererseits, die emotionalen Geschichten der Menschen mithilfe einer Chronologie zu erzählen.

Unsere Filmhelden haben sehr tiefgründige Geschichten und wir hatten die Aufgabe, diese in die Welt hinauszubringen. Das Schwierigste war, die passenden Menschen dafür zu finden. Viele der Filmhelden tauchten erst während der Dreharbeit auf. So filmten wir eine Familie, die uns daraufhin sagte, dass nebenan noch eine Familie wohnt, die auch eine ähnliche Geschichte durchgemacht hat. Infolgedessen lernten wir uns kennen, unterhielten uns und filmten sie.

RD: Maxim, Sie haben keine chronologischen Aufnahmen verwendet, aber Sie zeigen Fotografien im Film. Sind sie aus den Archiven?

M. G.: Das sind Fotografien aus den Fotoalben unserer Filmhelden. Als wir uns kennenlernten und unterhielten, baten wir sie uns diese Aufnahmen zu zeigen. Alle Fotografien im Film zeigen persönliche Geschichten. Somit ist es ein sehr genaues und einheitliches Bild der Menschen und ihres schwierigen Lebens.

RD: Wan haben Sie angefangen, an dem Film zu arbeiten?

M. G.: Die Besprechung fand im April statt. Im Mai, als die Bäume grünten, begannen wir mit der Dreharbeit. Wir unternahmen 3-4 große Touren durch die Region Altai. Wir versuchten, so viel wie möglich zu filmen, indem wir verschiedene Kirchdörfer und Dörfer aufsuchten, die 300-400 km von Barnaul entfernt liegen. Alexej und Andrej haben gefilmt, und als wir das Material gemeinsam durchgesehen haben, besprachen wir noch einmal alles und filmten das, was uns gefehlt hat.

RD: Die Dreharbeiten fanden also in der Region Altai statt. Wo denn genau?

M. G.: Natürlich im Deutschen Nationalrajon. Und zusätzlich noch in den Regionen Kosichinski, Sarinsk, Altai, Slawgorod und Michajlowsk sowie in Barnaul selbst.

RD: Alle deportierten Sowjetdeutschen haben ein sehr ähnliches Schicksal. Sie haben viele Menschen getroffen, deren Geschichten die Grundlage für den Film bildeten. Wie sind die Charaktere Ihrer Filmhelden?

M. G.: Wenn ich den Menschen in den Aufnahmen zuhöre, versetze ich mich immer in sie hinein und lasse ihre Geschichten durch mich hindurchfließen. Dabei erinnere ich mich an die Familiengeschichten, die mir meine Mutter in der Kindheit erzählt hat. Sie erzählte von meinen entkulakisierten Großeltern und wie sie vertrieben wurden. Meine Mutter weinte sehr viel, weil sie so viel Schmerz und Leid in sich trugen. Und wenn ich heute bei den Dreharbeiten den Menschen zuhöre, verstehe ich, wovon sie reden und was sie fühlen. Das ist ein Gefühl, das ich auch als Kind verspürt habe.

Die Geschichten der Menschen werden nicht als fremder Schmerz wahrgenommen. Als eine ältere Dame bei dem Set erzählt hat, dass ihre Familie gesalzenes Gras essen musste, kriegte man auf dem ganzen Körper eine Gänsehaut. Das sind Menschen, die grundlos gelitten haben. Mit der Geschichte der Sowjetdeutschen wollte ich den menschheitlichen Schmerz zeigen, der zu dieser Zeit alles erfüllte. Aber die Menschen hatten trotz aller Entbehrungen ein Leben. Natürlich war es schwer, aber sie versuchten, im Hier und Jetzt zu leben.

RD: Es ist immer schwierig, seine eigene Geschichte zu erzählen. Vor allem eine tiefgründige. Wie ist der Anfang des Filmes „Zeit“ entstanden?

M. G.: Ich habe lange darüber nachgedacht. Mir hat eine Frage keine Ruhe gelassen, und zwar „Mit was haben sich die Kinder in den Waggons beschäftigt, als sie von der Wolga – ihrer Heimat – nach Sibirien deportiert wurden?“. So entstand der Anfang des Films: Kinderstimmen, die gleichgültige Stimme des Kontrolleurs und das Geratter der Räder. Wir nahmen es im Studio auf. Die daraus resultierende Szene hat dem Film etwas Lebendiges verliehen.

RD: Maxim, wie kam es zu so einem aussagekräftigen Filmtitel?

M. G.: Der Titel ist uns in einer der letzten Arbeitsphasen eingefallen. Das war im Juli, bevor wir den Film rausgebracht haben. Wir hatten eine Menge Ideen wie „Der Preis der Zeit“, „Menschen. Ereignisse. Geschichten“, „Wir sind eins“, „Das Leben danach“ und andere. Letztendlich haben wir uns jedoch für „Zeit“ entschieden. Während der Dreharbeiten wurde Alexej auf eine Uhr aufmerksam und wandte eine sehr interessante Technik an: Er nahm eine Person durch das Prisma einer Uhr auf. Das gefiel uns, und wir wendeten diese Technik weiter an. Von den Uhren gibt es in dem Film tatsächlich eine ganze Menge. Wir haben welche von wolgadeutschen Familien, die die Uhren mit nach Sibirien nahmen und welche, die in Museen hängen. Am Ende des Films haben wir dies noch einmal aufgenommen:

„Man sagt, die Zeit heilt. Selbst die tiefsten Wunden werden heilen. Man muss nur geduldig sein“. Das sind die Worte, die wir am Ende hören.

RD: Zehntausende von Menschen werden Ihren Film während der „Filmwoche der Russlanddeutschen“ sehen. Welche Gedanken und Gefühle soll das Publikum nach dem Film haben? Was denken Sie als Regisseur?

M. G.: Mein Leitgedanke als Regisseur ist, dass das Publikum sich Gedanken machen sollte. Jeder von ihnen wird an etwas Eigenes denken. Manche werden die Großmutter anrufen, manche werden mit ihren Eltern darüber sprechen, ob sie das Richtige tun, und manche werden sich in die Geschichte vertiefen.

Der Film wird nicht nur von Russlanddeutschen geguckt. Es werden auch Russen, Ukrainer, Tataren und Juden unter den Zuschauern sein. Viele Völker haben die Deportation erlebt. Die Geschichte, die in diesem Film erzählt wird, bezieht sich auf alle.

Ich beobachte einige der Ereignisse, die in der Welt passieren und denke mir: „Wir machen wieder die gleichen Fehler. Alles wiederholt sich. Es sind noch keine 100 Jahre vergangen“. Leider.

RD: Die Geschichte wiederholt sich, das stimmt.

M. G.: Jede Generation denkt, dass sie einzigartig ist und dass die Ereignisse anders sein werden. Das wird erst passieren, wenn wir die Geschichte analysieren und verstehen. Schwere Zeiten bringen starke Menschen und ruhige Zeiten schwache Menschen hervor. Wir, die Essen nach Hause bestellen, müssen viel von unseren Vorfahren lernen. Sie sind unglaublich stark im Geiste. Wir müssen solche Geschichten kennen. Ohne sie haben wir und das Land keine Zukunft. Ich möchte den heutigen und künftigen Generationen den Schmerz dieser Zeit vor Augen führen. Im Vergleich zu dem, was wir vor 80 Jahren hatten, leben wir heute buchstäblich im Paradies. Wir haben alles. Das Einzige, was uns fehlt, ist Bildung.

Oft kennen wir nur die Geschichte, die von einer Person erzählt wird. Aber das hier sind Menschen, die diese Zeit miterlebt haben. Hört ihnen zu! Sie waren in einem Teufelskreis gefangen. Wenn man die Gelegenheit dazu hat, müssen solche Geschichten erzählt werden. Das ist es, was wir im Film erzählt haben.


Die „Filmwoche der Russlanddeutschen“, ein föderales Projekt des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur im Rahmen des Unterstützungsprogramms für Russlanddeutsche in der Russischen Föderation, findet vom 14. bis 30. September in den Regionen Russlands statt. Auf der Projektseite sind Informationen über die Filme und ihre Regisseure, ein Zeitplan für die Vorführungen in den Regionen und Links zu den Filmen, die online angesehen werden können, zu finden.

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

Rubriken: 80. Jahrestag der DeportationFilmwoche der Russlanddeutschen