„Stadtgeschichten über die Deutschen Russlands“: Stadtführerin Natalja Leonowa erzählt

Wir machen Sie weiterhin mit dem Online-Stadtführer zu deutschen Orten in den Städten Russlands bekannt. In einem Interview mit dem Portal RusDeutsch sprach Natalja Leonowa, eine der Gründerinnen des Projekts und professionelle Stadtführerin, darüber, wie dieser Stadtführer entstanden ist und welche Namen bekannter Persönlichkeiten deutscher Herkunft mit Moskau verbunden sind.

RD: Was hat Sie daran gereizt, an diesem Projekt zu arbeiten?

N. L.: „Im Jahr 2012 habe ich auf Anfrage des Deutsch-Russischen Hauses in Moskau und des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur den Reiseführer ‚Mein kleines Moskau. Berühmte Deutsche in der russischen Hauptstadt‘ geschrieben. Seitdem habe ich mich sehr in dieses Thema vertieft und verstand, dass in der Sowjetzeit das große Problem darin bestand, dass in Reiseführern Persönlichkeiten deutscher Herkunft praktisch nicht erwähnt wurden. So schrieb zum Beispiel bis in die 70-er Jahre niemand über den bemerkenswerten Architekten Fjodor Schechtel.

Wenn in den Reiseführern Orte erwähnt wurden, an denen sowohl deutsche als auch russische Architekten tätig waren, dann wurde in der Regel nur der Name des russischen Architekten genannt. Manchmal wurden diejenigen erwähnt, die bereits in Russland geboren waren, während diejenigen, die zu uns aus Deutschland kamen, überhaupt nicht erwähnt wurden.

So habe ich zum Beispiel in der Geschichte des Arsenals des Moskauer Kremls so viele Menschen deutscher Herkunft gefunden, die an seinem Bau beteiligt waren. Früher wurde in diesem Zusammenhang nur der Name von Matwei Kasakow erwähnt und es wurde gesagt, dass der Bau unter Peter I. begann. Die Tatsache, dass Ivan Gerhard und viele andere Architekten deutscher Herkunft daran beteiligt waren, wurde jedoch verschwiegen. Ich war unglaublich neugierig, mit diesem Material zu arbeiten und entdeckte jedes Mal neue Persönlichkeiten und erstaunliche Schicksale von Menschen, die in ihren jungen Jahren nach Russland kamen und Moskau für sie zu einer zweiten Heimat wurde.

Ich wollte die Arbeit fortsetzen, zumal nach dem Erscheinen des Buches weitere Stätten mit Bezug zu den Deutschen aus Moskau entdeckt wurden. Der Stadtführer wurde in einer sehr kleinen Auflage von 1000 Exemplaren veröffentlicht und war daher sehr schnell vergriffen.

Dieses Online-Projekt ermöglicht es, nicht nur die Informationen zu lesen, sondern auch entlang dieser Routen zu gehen, während Sie meine Erzählungen hören. Und es entsteht das Gefühl, dass man sich auf einer Tour zu den Sehenswürdigkeiten befindet, die mit den Deutschen aus Moskau verbunden sind.

RD: Wie haben Sie die Routen für die Website und die App ausgewählt?

N. L.: Das war eine schwierige und knifflige Arbeit. Die Aufgabe bestand darin, interessante Sehenswürdigkeiten in Moskau mit den Persönlichkeiten und Schicksalen der Deutschen aus Moskau zu verbinden. Und auch geografisch, damit es für den Reisenden angenehm war, die Route abzulaufen. Die Route sollte so aufgebaut sein, damit die Besucher nicht von einem Stadtkreis zum anderen fahren müssen. Es war sehr schwierig, einige Sachen wegzulassen, die nicht in den Zeitrahmen passten. An einigen Orten ist der deutsche Beitrag nicht so wichtig, und trotzdem möchte man über das ein oder andere Gebäude erzählen. Wie zum Beispiel über den Feinkostladen Jelissejew. Die erste Besitzerin, die den Bau dieses Gebäudes am Ende des 8. Jahrhunderts in Auftrag gab, war die Frau des Sekretärs von Katharina der Großen, der wissenschaftliche Übersetzungen aus dem Deutschen schrieb. Und der eigentliche Besitzer des Feinkostladens war Vorstandsmitglied der sehr bekannten Firma ‚Fresa & Co.‘, die sich mit der Produktion von Autos und Kraftfahrzeugmotoren beschäftigte. Fresa und alle Vorstandsmitglieder waren Deutsche. Es scheint ein indirektes ‚Deutschtum‘ zu sein. Und trotzdem wollte ich unbedingt darüber erzählen.

Ich musste viel mit Quellen arbeiten. Ich fand viele Informationen in der Russischen Staatsbibliothek und in heimatkundlichen Archiven. Viele Fakten mussten verglichen sowie wissenschaftlich und historisch recherchiert werden, da viele Fehler und Unstimmigkeiten gefunden wurden.

Wie zum Beispiel der Russlanddeutsche Roman Klein. Die Juden jedoch betrachten ihn als ‚ihren‘. Dies ist jedoch sehr umstritten, weil er als Robert Julius Klein geboren wurde. Und trotzdem gibt es viele Lücken in seiner Biografie. Begraben wurde er auf dem Wwedenskoje-Friedhof, dem sogenannten „Deutschen Friedhof“.

RD: Welcher Ort in Moskau, der mit den Deutschen verbunden wird, und welche Person deutscher Herkunft hat bei Ihnen die intensivsten Eindrücke hinterlassen?

N. L.: Mein Lieblingsort ist, auch wenn es merkwürdig klingt, der Wwedenskoje-(Deutsche)Friedhof. So viele bedeutende Menschen deutscher Herkunft sind dort begraben wie zum Beispiel Fischer von Waldheim, der Goethe und Schiller kannte, ein bemerkenswerter Professor, der auf Einladung unserer Regierung an die Lomonossow-Universität kam, gründete das Naturkundliche Museum, welches heute die Grundlage des Zoologischen und des Darwin Museums ist. Während des Krieges im Jahre 1812 rettete er die einzigartige naturwissenschaftliche Bibliothek. Auch Von Derwies kann ich nicht außer Acht lassen, denn er trug zum Bau des Gebäudes der Lomonossow-Universität bei. Die Anzahl der Menschen, über die ich endlos reden könnte, ist riesig.

Es ärgert mich immer wieder, dass jeder Ferdinand Theodor von Einem, den Gründer der Konditorei „Einem“ und später der Süßwarenfabrik „Roter Oktober“, kennt, aber vergisst, dass die bemerkenswerten Gebäude von seinem Geschäftspartner Julius Heuss gebaut wurden. Durch Julius Heuss und seine Söhne erreichte die Fabrik ein gewaltiges Produktionsniveau.

Es wurden Arbeitsbedingungen geschaffen, wie Hilfskassen, Krankenhäuser und Renten, die an Arbeitnehmer ausgegeben wurden, die 25 Jahre lang gearbeitet hatten. Das alles wurde unter Julius Heuss verwirklicht. Der Erste Weltkrieg und die mit den Pogromen verbundenen Ereignisse zwangen seine Nachkommen zur Auswanderung. Es ist bemerkenswert, dass sein Enkel, der Russland im Alter von 7 Jahren verließ und ein berühmter deutscher Journalist wurde, Russland immer noch als seine Heimat betrachtete und in jeder Hinsicht dazu beitrug, dass die Bibliotheken in den Ländern, die er besuchte, russische Bücher hatten“.

Weitere Informationen über den Online-Stadtführer finden Sie auf der offiziellen Website des Projekts.


Das Projekt „Stadtgeschichten über die Deutschen Russlands“ wird durch das Unterstützungsprogramm für Russlanddeutsche in der Russischen Föderation finanziert.

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